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Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees

Titel: Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees
Autoren: Juergen Gottschlich
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Kampfes. Der Streit um das Kopftuchverbot in Schulen, Universitäten und allen anderen öffentlichen Institutionen wird in der Türkei auch deshalb so verbissen geführt, weil das Kopftuch genau diesen jahrzehntelangen Kampf am stärksten symbolisiert. Für den Betrachter von außen ergibt sich damit ein doppelt verwirrendes Bild. Die vermeintlich islamische Türkei ist gar nicht islamisch, sondern laizistisch. Doch hier rebelliert nicht der freiheitliche, moderne Teil der Gesellschaft gegen die Anmaßungen der Religion, sondern den Part der Freiheitskämpfer beanspruchen die vermeintlich unterdrückten Frommen, weil der zunehmend erstarrte und dogmatische Kemalismus ihnen verbietet, an der Universität Kopftücher zu tragen, und auch auf andere religiöse Bedürfnisse angeblich zu wenig Rücksicht nimmt. Seit 2002 erstmals in der Geschichte der Republik eine islamische Partei allein die Regierung stellte und es dieser Partei bei den Wahlen 2007 dann gelang, mit einem noch besseren Ergebnis ihre Macht zu festigen, beginnt sich aber auch dieses Bild wieder zu verändern. Zwar ist ein großer Teil der Bürokratie und des Militärs nach wie vor kemalistisch dominiert, doch die islamisch anti-kemalistische Regierung ist längst dabei, ihre Leute auf allen Ebenen des Staatsapparates zu platzieren. Aus Sicht vieler Kemalisten ist deshalb in der Türkei zur Zeit eine stille Gegenrevolution im Gang, die die Errungenschaften der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts wieder rückgängig machen will. Gegen eine solche Entwicklung steht aus ihrer Sicht als letzte Barriere die Armee.
    Das führt zum dritten, häufig gepflegten Missverständnis: die Türkei als vermeintlichen Militär- und Polizeistaat. Zweifellos hat das Militär in der Türkei eine ganz andere Rolle als in Deutschland, wo nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges ein radikal verändertes Verhältnis zu jeder Form von Militarismus entwickelt wurde. Auch in den angelsächsischen Ländern, die nach wie vor ein starkes Sentiment gegenüber ihren Armeen pflegen, hat das Militär nicht eine so entscheidende Rolle wie in der Türkei, weil aus historischen Gründen das Primat der Politik gegenüber der Armee von niemandem in Frage gestellt wird. Das war in der Türkei anders und ist bis heute der neuralgische Punkt. Die Gründer der Republik waren Militärs und Ex-Militärs, erst in den 1950 er Jahren wurde eine echte parlamentarische Demokratie zugelassen, die das Militär jedoch alle zehn Jahre, zuletzt 1980 , durch einen Putsch wieder aus den Angeln hob. Doch daraus resultierten nie anhaltend lange Militärdiktaturen. Die Generäle verstanden und verstehen sich heute noch als Hüter der kemalistischen Grundideen der Republik, die nach ihrem Verständnis nur dann in das politische Geschehen intervenierten, wenn die gewählten Politiker den Kernbestand der Republik angeblich in Frage stellten. Dieses paternalistische Verhalten der Armeeführung ist aber auch deshalb möglich und wird von weiten Teilen der Bevölkerung bis heute akzeptiert, weil die politische Klasse dem wenig an eigenem Gestaltungswillen entgegensetzte und stattdessen in Korruption und wechselseitigen Intrigen versank.
    Die türkische Situation ist aber durchaus nicht so ungewöhnlich für Europa, wie es heute scheint. Auch in Portugal, Spanien und Griechenland ist es noch gar nicht so lange her, dass teils Jahrzehnte andauernde Militärdiktaturen überwunden wurden. In Spanien musste Franco erst sterben, bevor eine demokratische Entwicklung in Gang kommen konnte, in Portugal fiel der Startschuss zur Nelkenrevolution in den afrikanischen Kolonien, und in Griechenland ließ der große Bruder Amerika die Obristen erst fallen, als diese auf Zypern einmarschieren wollten. In allen drei Ländern hat dann die EU die entscheidende Rolle bei der Stabilisierung der jungen Demokratien gespielt, nicht nur mit Geld, sondern auch durch enge persönliche Unterstützung der gewählten Regierungschefs und deren Einbindung in einen größeren Zusammenhang. Die Türkei hat diese Chance Ende der 1970 er Jahre verpasst, als die EU dem Land eine zeitgleiche Integration mit Griechenland angeboten hatte, die damalige türkische Regierung das aber ablehnte. Der Putsch von 1980 hat dann die weitere demokratische Entwicklung um mindestens zehn Jahre zurückgeworfen. Der Mitte der 1980 er Jahre von der kurdischen PKK begonnene Bürgerkrieg hat die zivile Politik zusätzlich immer wieder geschwächt und die Rolle des Militärs
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