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Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees

Titel: Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees
Autoren: Juergen Gottschlich
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deshalb auch für gänzlich unstrittige Projekte Jahre bis zur Genehmigung. Weil dieser Engpass in der Bürokratie nicht beseitigt wird, nehmen alle Häuslebauer den sogenannten kurzen Dienstweg. Man holt eine Renovierungserlaubnis vom zuständigen Stadtteilamt ein und bekommt diese auch, wenn man den Beamten glaubhaft versichern kann, dass diese Renovierung zwar praktisch eine Sanierung ist, sie jedoch so durchgeführt wird, wie sie auch das Denkmalschutzamt genehmigt hätte. Dafür spendiert man dann beispielsweise ein Kopiergerät für das technisch schlecht ausgestattete Büro der Baubehörde, und alle sind glücklich.
    Diese Art von Flexibilität hat dazu beigetragen, dass eines der größten Probleme des Landes, die enorme interne Wanderungsbewegung vom Land in die Städte, einigermaßen sozial bewältigt werden konnte. Seit Anfang der 60 er Jahre führten Bevölkerungswachstum einerseits und die zunehmende Mechanisierung in der Landwirtschaft andererseits dazu, dass immer mehr Menschen in ihren Dörfern keine Arbeit mehr fanden beziehungsweise der Landbesitz der Familie nicht mehr ausreichte, um alle Kinder wiederum mit einem eigenen Anteil auszustatten. Die Folge davon war eine Landflucht in einem solchem Ausmaß, dass sie die Türkei völlig umgekrempelte. Lebten 1970 noch 62 Prozent der türkischen Bevölkerung auf dem Land, sind es heute gerade noch einmal 35 Prozent. Bedenkt man, dass sich die Bevölkerungszahl in diesem Zeitraum praktisch verdoppelt hat, kann man ungefähr ermessen, welcher Zuwanderungsdruck in den letzten 40 Jahren auf den türkischen Städten lastete. Mit am stärksten betroffen von dieser Entwicklung war und ist Istanbul.
    Mitte der 1960 er Jahre lag die Einwohnerzahl der alten Hauptstadt bei rund 1 , 5 Millionen. Jetzt, rund 40 Jahre später, leben zehnmal so viele Menschen in der Bosporusmetropole. Der größte Teil dieser Millionen an Neuzugängen waren arme Bauernkinder, die auf dem Land keine Perspektive mehr hatten. Niemand dieser Einwanderer, die nach Istanbul kamen, hatte Geld, um sich in der Stadt eine Wohnung zu mieten oder sich gar etwas kaufen zu können. Stattdessen lebten sie in Hütten, die »über Nacht erbaut« (das ist die Übersetzung des türkischen Begriffs Gecekondu) wurden und sich in illegale Slumsiedlungen einreihten, die 1983 bereits mehr als die Hälfte aller Wohnbehausungen in Istanbul ausmachten. Das Mirakel der Stadt ist, dass es heute trotz anhaltender Binneneinwanderung nirgendwo mehr ausgedehnte Slumgebiete gibt und die Gecekondu-Kultur bereits Folklore geworden ist. Bewältigt wurde dieses enorme Problem durch Flexibilität und paternalistische Fürsorge. Rein rechtlich waren alle diese Hütten, die da über Nacht erbaut wurden, illegal auf staatlichem Grund gebaut, und wäre es nur nach den Buchstaben der Gesetze gegangen, hätte jedes Mal der Bulldozer kommen müssen. Tatsächlich kamen die Bulldozer aber nur ganz selten, zumeist wurden die Slums erst einmal geduldet, um sich dann in wenigen Jahren in normale Stadtviertel umzuwandeln. Das geschah aber nicht wie in Deutschland durch sozialen Wohnungsbau – dazu wäre die Türkei viel zu arm gewesen –, sondern durch eine geschickte Mischung aus staatlicher Schenkung und privater Initiative.
    Das Geheimnis dieses Erfolges ist, dass den Bewohnern der Hütten, meistens im Zuge von Wahlkämpfen – schließlich haben auch arme Leute ein Stimme an den Urnen –, Besitztitel für das Land, auf dem sie anfangs illegal ihre Hütte gebaut hatten, übereignet wurden. Als Grundstücksbesitzer wurden die Slumbewohner dann plötzlich für die Baubranche interessant. Die Umwandlung eines Slums in ein Viertel mit einer normalen Wohnbebauung von Billigappartements, die von der Stadtverwaltung dann nach und nach auch mit der nötigen Infrastruktur versorgt wurden, geschah immer nach einem ähnlichen Muster: Einlokaler Bauunternehmer bot den Hüttenbesitzern an, auf ihrem Grundstück statt der Hütte ein Haus mit ungefähr sechs Wohnungen zu errichten. Weil Letztere das Grundstück einbrachten, bekamen sie nach Fertigstellung des Hauses zwei Wohnungen, die anderen vier Wohnungen waren der Gewinn des Unternehmers. Aus den bettelarmen Einwanderern vom Land waren so in relativ kurzer Zeit Wohnungsbesitzer geworden, die sogar eine Wohnung vermieten oder Verwandten aus dem Dorf, die ebenfalls in die Stadt kommen wollten, zur Verfügung stellen konnten. Diese Mischung aus Flexibilität und Paternalismus ist die Grundlage
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