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Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees

Titel: Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees
Autoren: Juergen Gottschlich
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Liberalisierung.
    Diese Politik der Öffnung provozierte natürlich Reaktionen vonseiten der Verlierer. Große Staatsbetriebe wurden privatisiert und zerschlagen, die staatliche Bürokratie verlor an Einfluss, quasi Monopole sahen sich plötzlich scharfer Konkurrenz ausgesetzt. Die Gegenparole zu dieser Politik war der Vorwurf des »Ausverkaufs der Nation«. Die Diskussion ähnelt in einigen Punkten der in Osteuropa in der Nach-Sowjet-Ära, nur dass in der Türkei der ideologische Überbau »Kemalismus« offiziell nicht angetastet wurde und im Gegensatz zum Kommunismus in der Gesellschaft auch nicht diskreditiert ist. Nach den Wirren der 90 er Jahre, die dem Tod Özals 1993 folgten, haben wir heute wieder eine mit der Özal-Ära vergleichbare Situation. Die seit 2002 regierende AKP (Partei für Fortschritt und Gerechtigkeit) mit Tayyip Erdogan an der Spitze, betreibt eine radikal neoliberale Wirtschaftspolitik und setzt die unter Özal begonnene Privatisierung des Staatseigentums ungebremst fort. Außerdem kommt die AKP aus dem politischen Islam – sie ist deshalb im Kern nicht nur anti-etatistisch, sondern auch anti-kemalistisch. Die Gegenbewegung zur AKP beschwört deshalb das Andenken an den Übervater Atatürk und beklagt den Ausverkauf des Landes durch die AKP – an die EU , an die Amerikaner, an die Ausländer ganz allgemein. Oberflächlich gesehen bedeutet das Nationalismus versus Islamismus, doch da sich natürlich auch die Frommen in der Türkei als gute Patrioten verstehen, findet seit ein paar Jahren eine Art Wettbewerb im Fahnenschwenken statt. In Sachen »Vaterlandsliebe« (Vatan sever) will sich niemand von seinem politischen Konkurrenten übertreffen lassen. Die Folge ist eine penetrante Zurschaustellung nationaler Symbole und eine gewisse Unklarheit gegenüber dem Ausland und den Ausländern. Die AKP wirbt um ausländisches Kapital, ist im Prinzip dafür, dass Ausländer ohne Beschränkungen Immobilien erwerben können und will vermehrt den Zuzug ausländischen Fachpersonals erleichtern. Gleichzeitig will man sich aber nicht dem Vorwurf des »Ausverkauf des Landes« aussetzen, so dass es dann plötzlich in der Praxis für ausländische Firmen doch erhebliche Probleme geben kann oder Ausländer sich beim Erwerb von Immobilien doch mit schier unüberwindlichen Hürden konfrontiert sehen können.
    Die Medien sind dabei ein getreues Spiegelbild dieser Zerrissenheit. Zwischen dumpfem Hurra-Nationalismus und klugen Analysen ist alles vertreten, oft sogar in derselben Zeitung. Die Türken sehen sich deshalb einem ständigen Wechselbad der Gefühle ausgesetzt. Will das Ausland – die EU oder die USA oder beide – das Land spalten, wie oft und immer wieder geschrieben wird, oder wollen »wir« nicht selbst Teil dieser angeblich so schlimmen EU werden? Das führt zu merkwürdigen Situationen. Als ich meinem Friseur verriet, dass mein Job darin besteht, die Deutschen mit Nachrichten aus der Türkei zu versorgen, meinte er: »Na dann bist du ja ein Spion, oder?« Er wusste selbst nicht genau, ob er darüber lachen oder sich ernsthaft Sorgen machen sollte, entschied sich dann aber dafür, dass ich doch sicher vor allem Gutes aus der Türkei berichten würde. Obwohl die meisten Türken grundsätzlich sehr kommunikativ und offen sind, dazu neigen, bei einer Fahrt im Überlandbus dem Sitznachbar ihr gesamtes Leben auszubreiten, und erwarten, dass man auch selbst jederzeit alle Familiengeheimnisse preisgibt, ist diese Neugierde und Offenheit durch die Konflikte der letzten Jahre verunsichert worden.
    Dazu hat auch nicht unerheblich beigetragen, wie in Europa über eine mögliche türkische EU -Mitgliedschaft diskutiert wird, beziehungsweise, was davon wie in der Türkei ankommt. Die meisten Türken wissen und akzeptieren, dass es zwischen Westeuropa und ihrem Land ein erhebliches wirtschaftliches, politisches und rechtsstaatliches Gefälle gibt und die Türkei deshalb enorme Anpassungsleistungen erbringen muss, wenn sie EU -Mitglied werden will. Was aber bei den meisten Leuten auf zunehmende Verbitterung stößt, ist die kulturalistische Debatte nach dem Motto: Die teilen unsere Werte nicht, die können nicht dazugehören. Denn selbstverständlich sind »unsere Werte« die besseren, womit sich die Türken automatisch auf einem tieferen Niveau befinden. Es ist kaum verwunderlich, dass viele sich von solchem Gerede verletzt fühlen und diese Verletzung geradewegs in einen ansteigenden türkischen Nationalismus
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