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Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees

Titel: Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees
Autoren: Juergen Gottschlich
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für die Organisation des türkischen Alltags.
    Für Deutsche ist dieses System natürlich erst einmal sehr gewöhnungsbedürftig. Wer gewohnt ist, dass das Leben nach klaren Regeln verläuft und man eben »auf seinem Recht« bestehen muss, wenn man nicht unter die Räder kommen will, kann an der türkischen Realität schon mal verzweifeln. Wer beispielsweise ein Telefon beantragt, und die Telecom kommt nicht, obwohl doch die Antragsgebühr bezahlt ist, hat mehr davon, sich um einen persönlichen Kontakt in die Behörde zu bemühen als einen Anwalt einzuschalten.
    Was im Kleinen, im privaten Bereich, gilt, gilt in etwas abgewandelter Form auch im Großen. Ausländische Firmen, die vor allem in den letzten zehn Jahren verstärkt auf den türkischen Markt drängten, haben oft enorme Anpassungsschwierigkeiten. Genehmigungsverfahren verzögern sich, versprochene Infrastrukturmaßnahmen kommen nicht zustande, deutsche Firmenkultur und türkische Beschäftigte prallen aufeinander. Der langjährige Leiter des LKW -Werkes von Daimler Benz in Aksaray, Hans Peter Heinstein, konnte dutzendweise Anekdoten über diese Schwierigkeiten erzählen. Ein Konflikt aus der Anfangsphase des Werkes in den früher 1980 er Jahren macht besonders deutlich, welche unterschiedlichen Erwartungen bei einer solchen Industrieansiedlung aufeinanderprallen können. In der Türkei war es lange so, dass Staatsbetriebe, von denen es sehr viele gab, Leute nicht unbedingt nach ihrer Qualifikation, sondern nach einem Klientelsystem einstellten, mit der Loyalität bei Wahlen belohnt wurde. Der Bürgermeister von Aksaray, einer Stadt südöstlich von Ankara, erwartete deshalb von der Mercedes-Werksleitung, dass diese eine Reihe von Leuten einstellen sollte, die der Bürgermeister vorbeischickte, damit die Gemeinde dann im Gegenzug eine benötigte Straße zum Werk bauen ließ. Als die Werksleitung sich empört weigerte, »unqualifizierte« Arbeiter einzustellen, präsentierte die Gemeinde einen Bebauungsplan, in dem die Straße mitten durch das Werk führte und die Produktion stark behindert hätte. Solch einen Konflikt wie in Deutschland mit Hilfe von Anwälten oder vor Gericht lösen zu wollen, hätte vermutlich dazu geführt, dass die Produktion in Aksaray bald wieder eingestellt worden wäre. Heinstein hat eine türkische Lösung gefunden, und Mercedes macht in Aksaray mittlerweile prächtige Gewinne und ist längst zum größten Arbeitgeber der Stadt geworden.
    Gewerkschafter klagen allerdings, dass ausländische Konzerne im Zuge der Anpassung auch schnell dazu übergehen, sich gegenüber ihren Mitarbeitern genauso paternalistisch zu verhalten wie türkische Betriebe. Die restriktive Gewerkschaftsgesetzgebung, so erzählt Hasan Arslan, Funktionär der linken Metallgewerkschaft Metal Is, wird von den ausländischen Konzernen voll ausgenutzt. Statt nach deutschen Gewerkschaftsrechten werden die Arbeiter genauso nach Gutsherren-Art behandelt wie in türkischen Firmen auch.
    Es gibt allerdings manche Schwierigkeiten für Ausländer und ausländische Firmen in der Türkei, die nicht nur unterschiedlichen Traditionen und gesellschaftlich gewachsenen Verhaltensweisen geschuldet sind, sondern mit einem ideologisch bedingten, spezifisch türkischen Nationalismus zu tun haben.
    Der Gründungsmythos der türkischen Republik ist der Unabhängigkeitskrieg gegen die Besatzungsmächte im Anschluss an den Ersten Weltkrieg. Ein Hauptcredo der türkischen Politik war seitdem Unabhängigkeit – nicht nur als souveräner Staat, sondern möglichst auch auf wirtschaftlicher Basis. Die junge Republik entwickelte deshalb eine Art Staatskapitalismus, in dem alle Schlüsselindustrien staatlich waren und auch sonst fast alles strenger staatlicher Kontrolle unterlag. Jahrzehntelang blieb die türkische Ökonomie gegenüber dem Weltmarkt abgeschottet, die einheimische Währung Lira war nicht kompatibel, ausländische Konzerne wurden nur in wenigen Ausnahmefällen zugelassen. Anfang der 1980 er Jahre riss der damalige Staatspräsident Turgut Özal dann das Steuer radikal herum, öffnete die Türkei für den Weltmarkt und machte die Lira zu einer konvertiblen Währung. Bis dahin durften Türken auch nur alle drei Jahre ins Ausland reisen und dafür dann bei der Staatsbank ausländische Währung erwerben. Ausländer kamen vor dieser Zeit selten ins Land. Die Türkei als Urlaubsparadies für den Massentourismus aus Westeuropa entstand erst auf der Grundlage der özalschen
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