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Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees

Titel: Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees
Autoren: Juergen Gottschlich
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kamen, hauptsächlich aus diesen unterentwickelten Gebieten der Türkei stammen und ihre Sitten und Gebräuche mitgebracht haben. Die Einwanderung nach Deutschland ist ähnlich selektiv wie die Nachrichten aus dem Land. Gebildete Türken aus wohlhabenden Familien, die beispielsweise zum Studium ins Ausland gehen, zieht es statt nach Deutschland viel eher nach Amerika, weshalb die türkische Community in den USA auch ganz anders aussieht als in Deutschland. Probleme mit der Integration von Türken sind in den USA gänzlich unbekannt.
    Das zweite Missverständnis in der deutschen Wahrnehmung ist es, die Türkei als ein muslimisches Land anzusehen. Genauso wie Istanbul als moderne Metropole mit einer 3000 Jahre alten multikulturellen Vergangenheit erstaunt viele Besucher, dass das angeblich muslimische Land nicht am Freitag, sondern wie gewohnt, am Sonntag seinen freien Tag hat und neben dem Tee das Nationalgetränk der Türken der Raki ist – ein Anis-Schnaps, der in den Kneipen und Restaurants reichlich genossen wird, obwohl doch weit über 90 Prozent bei Umfragen angeben, gute Muslime zu sein, was eigentlich Abstinenz bedeuten müsste. In der Türkei sind zwar fast alle Einwohner Muslime, doch neben den wirklich praktizierenden Gläubigen gibt es fast genauso viele Papier- oder Kulturmuslime, die den Imam einen lieben Mann sein lassen und ungefähr so häufig die Moschee besuchen wie die Weihnachtschristen in Deutschland die Kirche.
    Im Unterschied zu den arabischen Ländern ist die Türkei kein islamischer Staat. Kurz nach der Gründung der Republik 1923 wurde das Kalifat abgeschafft und die Scharia als Quelle des Rechts durch eine moderne Gesetzgebung ersetzt. Statt des Islam wurde der Laizismus, die Trennung von Staat und Religion, zu einer der tragenden Säulen des neuen Staates. Die dominierende republikanische Volkspartei unter der Führung des ersten Präsidenten des Landes, Mustafa Kemal, dem späteren Übervater Atatürk, setzte in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts eine beispiellose Kulturrevolution durch. Nicht nur die Republik erhielt eine weltliche Basis, die Kemalisten schafften auch die arabische Schrift ab und führten stattdessen das lateinische Alphabet ein, eine Sprachkommission modernisierte die türkische Sprache und ersetzte viele der persischen und arabischen Lehnwörter, die unter den Osmanen in Gebrauch waren, durch neue türkische Wortschöpfungen.
    Der Bruch mit dem Osmanischen Reich ging bis in den privatesten Alltag. Die traditionellen Kopfbedeckungen, der Fes (oder Fez) der Männer und der Schleier der Frauen, wurden 1926 verboten, die moderne Frau sollte ihr Haar zeigen, der moderne Mann einen europäischen Hut tragen. Die Rolle der Frau wurde revolutioniert. Türkische Frauen erhielten das allgemeine Wahlrecht – eher als etliche ihrer westeuropäischen Schwestern –, die moderne Frau sollte raus aus dem Haus und rein ins Erwerbsleben. Mustafa Kemals Adoptivtochter wurde die erste Pilotin des Landes, nach ihr heißt heute der zweite Istanbuler Flughafen Sabiha Gökcen. Doch die kemalistische Revolution hatte einen entscheidenden Geburtsfehler: Sie war eine Revolution von oben.
    Im Unabhängigkeitskrieg von 1919 bis 1923 hatte Mustafa Kemal, bei Beginn des Krieges offiziell noch General des Osmanischen Heeres und einer der wenigen Kriegshelden auf türkischer Seite, die Massen Anatoliens zum Widerstand gegen die ungläubigen Besatzer aufgerufen. Danach, mit Ausrufung der Republik, wollten die Kemalisten die Religion abstreifen wie einen alten Schuh. Das ging natürlich nicht ohne heftige Gegenreaktionen. Die Aufstände im Osten waren zunächst weniger ethnisch als vielmehr religiös motiviert. Ihre Anführer waren Scheichs, die für das Kalifat und nicht für einen kurdischen Staat kämpften. Um die Religion in den Griff zu bekommen, wurden alle religiösen Orden, die im Osmanischen Reich eine wichtige Rolle gespielt hatten, verboten und die Ausübung des Glaubens über eine staatliche Religionsbehörde reglementiert. So wurde die moderne Republik gegen breite Volksschichten oft unter Anwendung staatlicher Zwangsmaßnahmen durchgesetzt. Unter diesem Erbe leidet die Türkei noch heute.
    Der Kulturkampf zwischen Frommen und Säkularen, zwischen islamischen und laizistischen Parteien, zwischen der seit 2002 amtierenden islamisch grundierten Regierung und dem dem Laizismus verpflichteten Militär ist Ausdruck dieses in den 20 er Jahres des letzten Jahrhunderts begonnenen
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