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Hämatom

Hämatom

Titel: Hämatom
Autoren: Lucie Flebbe
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1.
    Bochum bei Nacht von oben zu betrachten ist irritierend. Als
würde man in einem Raumschiff über einem fremden Planeten hängen. Und dabei überlegen,
ob es nicht das Klügste wäre, einfach weiterzufliegen.
    Klingt depressiv, ich weiß.
    Soll es auch.
    Mein Name ist Lila. Ich bin zwanzig Jahre alt und mein
Leben ist eine Katastrophe.

    Â 
    Ich blickte auf das blinkende Meer bunter Lichter,
das den Advent ankündigte. Der beleuchtete Förderturm des Bergwerkmuseums ragte
hinter den Häusern hervor wie ein außerirdisches Insekt und in der Ferne hörte
ich das Brummen der Autobahn, das selbst nach Mitternacht nicht verstummte.
    Mein Blick glitt über die Schaufenster im Erdgeschoss des
Hauses gegenüber, die auch nachts beleuchtet waren. Neben einem Tattoo-Studio,
das mit Bildern von tätowierten Hintern warb, zeigte ein Fotoshop
Hochzeitsaufnahmen.
    Zwischen den unzähligen Satellitenschüsseln, die an den
Stockwerken darüber klebten, war es hinter vereinzelten Fenstern noch hell. Ich
konnte in die Wohnungen sehen. Ein Mann im Unterhemd schlief mit einer
Bierflasche in der Hand vor dem Fernseher. Hinter einer mit Sternen geschmückten
Scheibe stritt sich ein Paar seit einer halben Stunde, was in absehbarer Zeit
mit einem Totschlag im Affekt enden musste. Und eine Hausfrau mit
Schlafstörungen hatte soeben einen vorweihnachtlichen Großputz begonnen. Weiter
unten starrte eine Oma aus dem Fenster.
    Ich hatte das Gefühl, von ihr beobachtet zu werden, obwohl
das unmöglich war, denn ich saß draußen im Dunkeln und in ihrer Wohnung brannte
Licht. Trotzdem zog ich mich in den Schatten eines blechernen
Belüftungsschachtes zurück.
    Mir war kalt.
    Kein Wunder: Es war Anfang Dezember, drei Uhr früh und
zwei Grad unter null und ich hockte fünf Stockwerke hoch auf einem Dach, neben
einer aus öffentlich-rechtlichen Zeiten übrig gebliebenen Fernsehantenne.
    Das war das Ende.
    Eindeutig.
    Und es geschah mir so was von recht!
    Wie arrogant war ich gewesen, mir als gerade Zwanzigjährige
einzubilden, schon alles zu wissen, alles gesehen zu haben und auf alles, was
noch kam, vorbereitet zu sein!
    Wie war ich darauf gekommen?
    Weil ich es fertiggebracht hatte, mit drei Dutzend Männern
zu schlafen, bevor ich volljährig war? Oder weil ich bereits aufgehört hatte zu
kiffen, als meine Klassenkameraden erst bemerkten, dass man mit Hanf keine
Kaninchen fütterte? Oder weil ich mein Bestes getan hatte, um mir die
jahrelangen Prügel meines Vaters auch zu verdienen?
    Wirklich alles Meisterleistungen.
    Nur auf Ben Danner war ich nicht vorbereitet gewesen.
    Ich hatte mich verliebt. Zum allerersten Mal war mir das
passiert und gleich schlimmer als einer Viertklässlerin mit den Milchgesichtern
von Tokio Hotel . Es hatte mich
erwischt wie eine rechte Gerade. Kompletter Knock-out, anders konnte man das
nicht nennen.
    Jedem, der einigermaßen bei Verstand war, wäre sofort
klar gewesen, dass die Geschichte niemals gut gehen konnte. Der
Altersunterschied war dabei noch das allerkleinste Problem. Aber in dem seit
seiner geplatzten Hochzeit vergangenen Jahrzehnt hatte der Kerl regelmäßig
sogar Frauen mit Hochschulabschluss und D-Körbchen vor die Tür gesetzt. Was
sollter er da mit einer verhaltensauffälligen Gewohnheitslügnerin wie mir
anfangen? Wieso hätte ausgerechnet unsere Beziehung Danners bewährte Drei-Monats-Grenze
überstehen sollen?
    Ich hatte alle Alarmsignale konsequent ignoriert. Zu sehr
hatte ich mir gewünscht, mich in diesem rosaroten Luftschloss einmieten zu
können, in dem Danner mit mir schlief, Molle uns in seiner Kneipe leckeres
Essen kochte, Kriminalkommissar Lennart Staschek die Ermittlungen unserer Detektei
unterstützte und dessen Tochter Lena sowie deren beide beste Freundinnen Karo
und Franzi zu meiner Clique mutierten, die ich noch nie vorher gehabt hatte.
Von Danner hatte ich mich ernst genommen, vielleicht sogar zum ersten Mal ein
bisschen verstanden gefühlt.

    Ich hatte ein Zuhause gewollt und mit Gewalt verdrängt,
was ich schon lange wusste: dass es so etwas nicht gab. Da mein rosarotes Luftschloss
vom Boden der Tatsachen schon ein ganzes Stück abgehoben hatte, war der Absturz
umso schmerzhafter gewesen.
    Ich rieb mir mit vor Kälte steifen Fingern die Augen,
weil die blinkenden Lichter Bochums vor mir verschwammen.
    Meine Finger zitterten und daran waren nicht nur die
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