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Traenenengel

Traenenengel

Titel: Traenenengel
Autoren: Franziska Gehm
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beschrieben.
    War sie das, eine Opfergabe?
    Wem sollte sie geopfert werden?
    Warum gerade sie?
    Genau genommen hatte der Täter sie nicht geopfert. Flora Duve war noch am Leben. Zum Glück. Es war kein versuchtes Tötungsdelikt.
     Laut Aussage der Mediziner hätte Flora Duve nicht verbluten können, allerdings hätte sie durch Unterkühlung in einen lebensbedrohlichen
     Schock fallen können.
    Hatte der Täter das einkalkuliert? Ob gewollt oder nicht: Er hatte mit Floras Leben gespielt, kein Zweifel.
    Vielleicht, überlegte Sälzer, wollte der Täter Flora nicht opfern, sondern sie nur wie ein Opfer aussehenlassen. Er wollte ein Zeichen setzen. Sälzer hatte das Gefühl, der Täter wollte jemandem eine grausame Lehre erteilen, womöglich
     Flora selbst oder einer anderen Person. Das Ganze schrie doch förmlich nach Aufmerksamkeit. Ein wehrloses Mädchen, nachts,
     nackt, nicht im Gebüsch oder im Schilf, nein, mitten auf einer Holzinsel im Badesee der Stadt. Es fehlte nur noch das Flutlicht.
    Aber das Gefühl war genauso unbestimmt wie die Gefühle von Herrn Ludwig. Er konnte sie nicht belegen, hatte keine Beweise.
     Noch nicht einmal eine Tatwaffe. Genauso gut konnte die Tat aus Rache geschehen sein, aus Liebe oder Eifersucht   ... noch gab es zu viele Möglichkeiten.
    Der Polizeihauptmeister drehte die Salzstange zwischen den Fingern. Er versuchte, sich zu beruhigen, sagte sich, sie stehen
     erst am Anfang der Ermittlungen. Eins nach dem anderen. Weitere Zeugen suchen, sie vernehmen, mit den Angehörigen reden, mit
     Freunden. Sich ein Bild machen. Dann den Kopf zerbrechen.
    Doch das war nicht leicht. Besonders, wenn gerade ein Schwerverbrecher frei herumlief. Natürlich konnte Silvio Zinke schon
     längst über alle Berge sein, aber er konnte genauso gut noch hier in Telpen sein. Irgendwo. In einem der kleinen Wäldchen,
     die die Stadt umgaben, in einem leer stehenden, verfallenen Altbau oder auf einem geschlossenen Fabrikgelände. Davon gab es
     hier genug.
    Silvio Zinke. Wegen dreifacher Vergewaltigung und zweifachem Mord zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Vergewaltigungen, die
     in zwei Fällen mit dem Tod der Opfer endeten, waren durch besondere Brutalität gekennzeichnet gewesen. Leif Sälzer erinnerte
     sich noch genau daran, wie der damals meistgesuchte Schwerverbrecher Deutschlands in der Nähe der französischen Grenze gefasst
     wurde. Er selber war nicht dabei gewesen, aber es ging durch alle Medien. Durch einen Hinweis aus der Bevölkerung konnte ihn
     die Polizei in einer Kneipe festnehmen, wo er seelenruhig sein Bier trank. Er sah aus wie ein Beamter, der sich ein Feierabendbier
     genehmigte. Hellblaues Hemd, rahmenlose Brille, schütteres, blondes Haar. Kleine, wache Augen, ein schüchternes Lächeln. Er
     wäre der Nachbar gewesen, dem man im Urlaub den Schlüssel zum Blumengießen gegeben hätte.
    Bei der Festnahme leistete er keinen Widerstand, hatte keine Personalien bei sich. Erst, als man die Fingerabdrücke nahm und
     abglich, bestand Gewissheit.
    Zinke wurde in der damals neu in Betrieb genommenen Justizvollzugsanstalt am Rand von Telpen untergebracht. Dort sollte er
     seine lebenslange Freiheitsstrafe absitzen. Silvio Zinke hatte offenbar andere Pläne.
    War Flora Duve ihm zum Opfer gefallen? War sie einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesenund hatte Zinke bei der Flucht im Weg gestanden? Wenn, dann hatte Zinke seine Handschrift geändert. An Flora Duve waren keine
     Spuren einer Vergewaltigung festgestellt worden. Die Brutalität war eine andere, perfider, unterschwelliger. Trotzdem kam
     Zinke als Täter infrage. Von der Justizvollzugsanstalt zum See war man zu Fuß in einer guten Stunde. Wenn man rannte, vielleicht
     auch in fünfundvierzig Minuten. Zinke hätte sich am See, der direkt an einer Bundesstraße lag, verstecken und auf einen Komplizen
     warten können. Oder auf eine andere Gelegenheit, die Gegend zu verlassen. Flora Duve hätte ihn dabei gestört. Sie war allein
     am See. Ein Mädchen. Zierlich. Wehrlos. Vielleicht hatte sie ihn gesehen. Vielleicht wollte Zinke mit der Tat nur ein Zeichen
     setzen. Wenn, dann war die Botschaft klar: Kommt mir nicht in die Quere.
    Und wenn es doch noch einmal jemand tat   ...?

4.   Kapitel
    Andro strich Floras Haare hinter ihre Ohren. Sie saßen auf ihrem Bett. Ein Bett wie aus Tausendundeiner Nacht. Runde Kissen,
     Chiffonhimmel. Alles in knallrot. Früher hatte er gedacht: wie Klatschmohn.
    Er saß hinter ihr. Ihr Rücken
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