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Traenenengel

Traenenengel

Titel: Traenenengel
Autoren: Franziska Gehm
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1.   Kapitel
    Die Klinge glänzt silbern und unschuldig im Mondlicht. Sie ist schön, vollkommen und mächtig. Schwebt über ihr, kühle Eleganz,
     grausame Verheißung. Das Messer senkt sich wie in Zeitlupe, zerteilt das warme, dickflüssige Meer der schwarzen Nacht. Die
     Trägheit verschluckt jedes Geräusch. Stummer Schrei.
    Dann trifft sie der erste Stich. Heftig. Tief. Voller Hass. Heißer Schmerz überflutet sie, erstickt sie.
    Dann der zweite   ... STICH, der dritte, der vierte
    STICH STICH STICH   ...
    Immer tiefer. Länger. Brutaler.
    ... STICH STICH STICH STICH   ...
    Warmes Blut auf kalter Haut. Bahnt sich langsam den Weg, eine tödliche Schlange.
    ... STICH STICH STICH STICH   ...
    Sie zählt nicht mehr. Wehrt sich nicht. Ist wie betäubt. Ist nur noch Schmerz. Die Augen weit aufgerissen, dennoch blind.
     Irren durch einen Nebel. Hasten, verfangen sich, straucheln. Die Lider zucken. Ein Bild erscheint. Die Klinge blutrot. Geschändet.
     Beschmutzt. Die Schneide drohend, noch immer hungrig. Doch sie zieht sich zurück, lässt ab von ihr. Vorerst.
    Ihre Hand, zur Faust geballt mit leichenblassen Knöcheln,löst sich. Sie versucht, den Kopf zu heben. Ihr Nacken wie in Totenstarre, sie kämpft dagegen an, ihr Kinn zittert. Sie sieht
     ihren Körper. Sieht ihre Haut. Das, was sie mal war. Sieht das Blut. Sieht die Wunden. Versucht, alles mit dem Blick einzufangen,
     es ist zu mächtig. Sie lässt sich fallen, schließt die Augen. Ein Gedanke, wie ein Platzregen aus Stecknadeln, geht über ihr
     nieder.
    Gott, wie krank ist jemand, der so etwas tut?
    Kopf, Arme, Beine, Lider, alles wird schwer, schwammig, ist nicht mehr da. Noch treibt sie eine Weile, dann taucht sie ins
     Dunkelblau, versinkt im Nichts.
     
    Als sie wieder zu sich kommt, sind Minuten vergangen. Stunden, Tage, Wochen – sie weiß es nicht. Sie weiß nur, dass
sie noch ist
, denn sie spürt die Schmerzen. Und die Kälte. Sie hält ihren nackten Körper gefangen. Lähmt ihn. Schnürt ihn ein. Hat sich
     auf sie gestürzt wie ein Aasgeier, verschlingt sie, die wehrlos ist, reißt das letzte Leben aus ihrem Körper.
    Sie versucht, sich zu bewegen. Die Holzplanken unter ihr sind hart. Etwas Feuchtes klebt an ihren Armen, Beinen, dem ganzen
     Körper. Plötzlich hört sie ein Geräusch. Sie will den Kopf drehen, hat kaum noch Kraft. Ihre Augen, hell und voller Angst,
     schweifen durch die Nacht, lodern mit einer Frage:
    Kommt er zurück?

2.   Kapitel
    [Telpener Tagesblatt online, 03.   Juli, letzte Meldung]
    Grausamer Fund
    In den frühen Morgenstunden machte ein Rentner am Telpener Badesee einen grausamen Fund. Auf der hölzernen Badeinsel in der
     Mitte des Sees lag ein junges Mädchen. Es war nackt, hatte Arme und Beine von sich gestreckt und der Körper war von zahlreichen
     Schnittwunden übersät. Nachdem der Rentner festgestellt hatte, dass das Mädchen zwar noch lebte aber nicht ansprechbar war,
     rief er die Rettung. Diese schickte einen Krankenwagen und eine Polizeistreife. Bis Redaktionsschluss war lediglich bekannt,
     dass sich das Mädchen derzeit im Krankenhaus befindet und unter Schock steht.
    ***
    Polizeihauptmeister Leif Sälzer überflog den kurzen Artikel auf der Homepage der Lokalzeitung. »Scheiße.« Das Wort war nur
     ein Hauch. Er starrte mehrereSekunden auf einen unbestimmten Punkt am Bildschirmrand. Seine Augen verdunkelten sich, wie aus dem Nichts schob sich ein
     Schatten davor. Dann fiel sein Blick wieder auf den Onlineartikel. »Was die schon wieder alles wissen.« Seine Stimme klang,
     als hätte er zum Frühstück eine Packung Zigaretten geraucht. Dabei hatte er vor einem Jahr aufgehört. Zum dritten Mal. Als
     er von seiner Versetzung nach Telpen erfuhr. Er dachte, ein Ortswechsel wäre ein guter Zeitpunkt. Da wusste er noch nicht,
     in was für ein verkniffenes Flachlandnest es ihn verschlagen würde. Seine damaligen Kollegen hatten gemeint, eine Versetzung
     nach Telpen wäre ein Grund, mit dem Rauchen anzufangen. Er dachte, es wäre ein Scherz.
    Sälzer fuhr sich mit einer Hand durch die halblangen, braunen Haare. Mit der anderen griff er nach der Tasse Pfefferminztee.
     Er ließ sich in den Bürostuhl sinken, dessen Lehne unter seinem Gewicht nachgab und knarrte. Er nickte seinem Praktikanten
     zu. »Schieß los.«
    Matej Masaryk zog einen Zettel aus seiner Gesäßtasche, setzte sich mit einem Bein halb auf den Tisch, faltete den Zettel auseinander
     und begann: »Das Mädchen heißt Flora Duve. 16  
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