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Begierde

Begierde

Titel: Begierde
Autoren: Lilly Gruenberg
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Die Testamentseröffnung
    Das Taxi hatte Schwierigkeiten, sich durch den dichten Berufsverkehr zu schlängeln, obwohl sich der Fahrer große Mühe gab und gerade zum x-ten Mal die Spur wechselte, wenn es dort gerade schneller vorwärts ging. Trotzdem hatte Marc den Eindruck, zu Fuß würde er mindestens genauso schnell vorangekommen. Allerdings nicht so trocken. Denn es regnete in Strömen. Natürlich hätte er auch die Straßenbahn nehmen können. Die hatte wenigstens ihr eigenes Gleisbett und hielt ihre Zeiten ein. Aber bei solch miesem Wetter wusste er die Annehmlichkeiten eines Taxis durchaus zu schätzen.
    Jedes Mal, wenn er geschäftlich in seiner deutschen Heimat zu tun hatte, hatte er den Verdacht, dass es hier wesentlich mehr regnete als in Italien. Es war zumindest feuchter und kälter. Niemals hätte er geglaubt, dass ihm das eines Tages auffallen würde. Auch der Verkehr war quälender. Dabei war der Autoverkehr in Rom noch dichter als hier in Frankfurt. Aber irgendwie waren die Italiener flexibler, spontaner, kamen schneller voran, ohne jedoch im Übermaß die Verkehrsregeln zu brechen. Selbst wenn sich einer aufregte und wild gestikulierte, war das bei weitem weniger ernst gemeint als in Deutschland.
    Zum wiederholten Male sah er auf seine edle Schweizer Armbanduhr. Der Termin rückte unaufhaltsam näher. Auf seiner Stirn bildete sich eine Falte und sein Blick begegnete kurz dem des Taxifahrers im Rückspiegel, der kommentarlos die Schultern hochzog. Marc hasste Unpünktlichkeit, obwohl er sich auch daran inzwischen gewöhnt haben sollte. Das
Dolce vita
traf durchaus auch auf das italienische Verständnis von Terminen zu. Vielleicht erfasste ihn aber auch nur zuhause dieser Wahn deutscher Pünktlichkeit.
    Zuhause
. Bitterkeit stieg in Marc auf, wie ein Schwall Magensäure, der überfallartig die Speiseröhre emporsteigt und einen ekligen Nachgeschmack hinterlässt. Hier war schon lange nicht mehr sein Zuhause. Zuhause war dort, wo er seit einigen Jahren lebte und arbeitete, am Rande Roms, nur eine halbe Autostunde von der
Casa dell’artigianato
entfernt, der Fabrik, in der er zusammen mit Antonio del Carmine anspruchsvolle Designermöbel und Accessoires für junge Reiche herstellte. Es kam ihm vor, als hätte er schon sein halbes Leben dort verbracht.
    Es war eine gute Kombination. Antonios Familie mit ihrer alt ehrwürdigen, italienischen Herkunft, etabliert und angesehen, mit kaufmännischer Erfahrung über Generationen. Er selbst dagegen sorgte als »guter« deutscher Unternehmer für das Vertrauen der internationalen Kundschaft, verkörperte die angeblich typisch deutschen Eigenschaften wie Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit. Obwohl er vielen Italienern immer noch zu Deutsch war, zu steif, zu akkurat, war er manchen Deutschen bereits zu italienisch.
    Marcs Anspannung stieg ins Unerträgliche. Viel zu spät hatte er den Brief erhalten, der ihn über den Tod seiner Stiefmutter und die Testamentseröffnung beim Notar informierte, obwohl er in Frankfurt ein kleines Kontaktbüro mit zwei Assistentinnen unterhielt, die seine Post sortierten und bearbeiteten, oder bei Bedarf nach Italien schickten. Aber die italienischen Postbeamten hatten gerade Mal wieder gestreikt, und so war der Brief mehrere Tage im Nirgendwo liegen geblieben.
    Bedauern empfand er kaum. Seine Stiefmutter war der Scheidungsgrund seiner Eltern gewesen. Die Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit. Seine Stiefmutter war nur an dem Mann interessiert gewesen, an seiner sexuellen Ausstrahlung und seinem nicht geringen Vermögen, aber nicht an dem halb erwachsenen Sohn, einem eher lästigen Anhängsel.
    Anfangs weigerte Marc sich, zu begreifen und zu akzeptieren, dass seine Eltern sich trennten. Sein Vater machte keinen Hehl daraus, dass er wechselnde Geliebte hatte, und Marc schwankte damals zwischen der Bewunderung des Vaters als toller Hecht und dem Mitleid für die gekränkte Mutter. Gerade zu dieser Zeit hätte er selbst dringend ein starkes Vorbild gebraucht, eine männliche Führungsperson, die ihm mit gutem Beispiel voranging und ihn auf das Leben vorbereitete. Oh ja, sein Vater und seine Stiefmutter bereiteten ihn durchaus auf das vor, was ihn erwarten würde. Aber anders als es wünschenswert gewesen wäre. Doch das begriff er alles erst später, als er das Verhalten seines Vaters analysierte und verurteilte. Die Streitereien, die seine Eltern lautstark ausfochten, ehe seine Mutter letztlich auszog, gellten ihm noch nachts in den
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