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Traenenengel

Traenenengel

Titel: Traenenengel
Autoren: Franziska Gehm
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lehnte an seinem Oberkörper. Er kam Andro noch schmaler vor als sonst. Er spürte ihre Atmung.
     Er roch ihr Shampoo, Haargel oder was immer es war. Es roch süß und frisch zugleich. Wie eine Mischung aus Lakritz und Zitrone.
     Wie Flora.
    Trixi hatte recht gehabt. Flora musste jemanden sehen, brauchte Hilfe. Auch wenn sie das niemals sagen würde. Es war richtig,
     dass er gleich nach der Schule zu ihr gegangen war. Stumm betete er diesen Satz vor sich hin. Wieso fühlte es sich dann nicht
     richtig an?
Richtig , richtig , richtig .
Richtig konnte auch richtig falsch sein. Verdammt falsch. So wie er.
    Fast eine Stunde war er bei ihr. Fast eine Stunde lang hatte er sie in den Armen gehalten. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
     Auch sonst redete er ungern mehr als das Notwendige. Aber was war jetzt notwendig? Sollte er ihr wieder und immer wieder sagen,
     wie unsagbar leid es ihm tat?
    Klar doch. Gerade er.
    Er zog Flora an sich heran, steckte die Nase in ihre Haare und sog den Duft ein. Die Haare waren weich, wie ihre Haut. Zum
     Versinken. Immer noch.
    »Hast du dir Sorgen gemacht?«, fragte Flora leise. Ihre Stimme war belegt.
    »Klar. Was denkst du denn.«
    »Weiß nicht.« Flora wandte den Kopf halb zu ihm.
    Er strich über ihre Wange.
    Sie starrte geradeaus.
    Die schwarzen, langen Wimpern regten sich nicht. Floras grünbraune Augen waren wässrig.
    Andro nahm innerlich drei Anläufe, bevor er fragte: »Und du kannst dich wirklich an gar nichts erinnern?«
    Flora wandte sich wieder ab, verharrte reglos mit dem Rücken zu Andro. Die Sekunden verstrichen. Andro dachte schon, sie hätte
     seine Frage nicht gehört. Doch dann drehte Flora sich auf einmal um, setzte sich ihm gegenüber und sah ihn an.
    Sie sah ihn an.
    Sah ihn an.
    Sah ihn an.
    Andro hörte in seinem Kopf eine Uhr ticken.
Meine Zeit läuft ab
. Was wusste Flora? Was wollte sie? Er suchte in Floras Augen nach einer Antwort. Doch er konnte ihren Blick nicht lesen.
     Es war, als hätte ihn der klatschmohnrote Chiffonhimmel verschleiert. Flora war weit weg.
    »Doch. An etwas kann ich mich erinnern«, sagte Flora schließlich langsam.
    Andro sah sie ausdruckslos an.
    Tick. Tick . Tick
.
    »An dich.«
    Andro hielt ihrem Blick stand.
    »Und an deine Worte.«
    Tick. Tick . Tick .
    »Und an das, was du nicht gesagt hast.«
    Andro schwieg. Egal, was er sagen würde, es würde falsch sein. Entweder eine Lüge oder etwas, was sie nicht hören wollte.
     Was sie verletzen würde. Noch mehr.
    »Was ist?« Flora zog eine Augenbraue hoch. »Kannst
du
dich jetzt etwa nicht mehr erinnern?«
    Andro wandte den Blick von ihr ab. Er starrte auf eine Konzertkarte, die Flora neben einen Spiegel an die Wand gepinnt hatte.
     Sie waren zusammen bei diesem Konzert gewesen. Erst vor ein paar Wochen. Das Konzert war gut gewesen. So wie alles andere
     damals. »Doch«, sagte er schließlich und sah Flora in die Augen. »Ich kann mich sehr gut erinnern.« Er wusste, dass es ein
     Wort gab, mit dem er sich nichts vergab. »Entschuldige.« Sein Mund war trocken.
    Flora sah ihn lange an. Andro hatte das Gefühl, der Minutenzeiger seiner imaginären Uhr drehte mehrere Runden. Das konnte
     Flora schon immer gut: schweigen, bis der andere weich wurde. Schweigen, bis sie damit alles gesagt hatte.
    Schließlich streckte sie ihre Hand nach ihm aus. Ihre Finger zitterten. Die Gesichtsmuskeln am Kiefer zuckten.
    Eine Sekunde war Andro sich nicht sicher, ob sie ihn umarmen oder erwürgen wollte. Er blieb steif sitzen und starrte auf Floras
     Hand, als wäre sie eine Vogelspinne.
    Floras Finger berührten seinen Nacken, dann fuhr sie ihm langsam um den Hals und zog ihn an sich heran. Sie vergrub ihr Gesicht
     in seinen Haaren. »Mir tut es auch leid. Furchtbar leid«, flüsterte sie.
    Andro hatte das Gefühl, unter einer Wechseldusche zu stehen. Floras Hand war kalt, ihr Atem warm. Doch das allein war nicht
     der Grund. Er legte beide Arme um ihren Rücken und zog sie an sich heran. Behutsam. Er wollte keine Wunden aufreißen. Wo und
     welche auch immer.
    Einen Moment atmeten sie im Gleichklang.
    Andro.
    Flora.
    Andro.
    Flora.
    Dann galoppierte ihr Atem davon.
    »Nichts mehr mit Schönste im ganzen Land, was?«, flüsterte Flora und hob den Kopf.
    Andro sah Flora verwirrt an.
    »Lippen, rot wie Blut, und Haare, schwarz wie Ebenholz«, sagte sie leise.
    Jetzt erinnerte sich Andro. Er strich Flora über die Haare, dann berührte er kurz mit dem Daumen ihre Lippen. »Haut doch noch
    
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