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Traenenengel

Traenenengel

Titel: Traenenengel
Autoren: Franziska Gehm
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Jahre. Lebt mit ihrer Mutter, Karoline Duve, allein. Vater unbekannt. Die Mutter hat Flora mit 18 bekommen. Arbeitet seit
     ein paar Jahren bei der Kulturwerkstatt Telpen. Stellvertretende Leiterin. Flora Duve geht in die 10.   Klasseder Heinrich-Heine-Schule. Halbwegs gute Noten. Beliebt. Macht bei einer Musicalgruppe mit. Hat einen festen Freund. Ein ganz
     normales Mädchen. Hat Anzeige gegen unbekannt erstattet.« Masaryk legte den Zettel auf seinen Schreibtisch, der Kopf an Kopf
     mit dem seines Vorgesetzten stand.
    Sälzer sah Masaryk aus halb geschlossenen Augen an. Er wippte kaum merklich mit dem Stuhl. Masaryk war Polizeibeamter in Ausbildung
     und Sälzer vor ein paar Wochen als Praktikant zugeteilt worden. Er hätte Sälzers Sohn sein können. Rein vom Alter. Sälzer
     konnte sich nicht vorstellen, dass – würde er jemals einen Sohn haben – er so sportlich, zielstrebig und vernünftig sein würde.
     Aber Masaryk war gut. Keine Frage. Er würde nicht lange Polizeioberwachtmeister sein. Höchstwahrscheinlich verließ er Telpen
     noch vor Sälzer. Er war einer dieser jungen Leute, die ein Ziel hatten. Sie waren Sälzer fremd, gleichzeitig schätzte er sie
     deswegen. Er wusste heute noch nicht, wohin er eigentlich wollte.
    Er beugte sich wieder zum Schreibtisch, die Stuhllehne klappte zurück in die Ausgangsposition, Sälzer legte die Unterarme
     auf den Tisch. »Was sagen die Ärzte?«
    »Hier.« Masaryk reichte Sälzer eine Kopie der Krankenakte.
     
    Ambulante Krankenakte
     
    Diensthabender Notarzt: Dr.   Feldbaum
    Einlieferung Notaufnahme: 3.   Juli, 4:15   Uhr
1 6-jährige , weibliche Patientin mit multiplen, teilweise tief gehenden Hautverletzungen
Patientin in verwirrtem Zustand sowie unterkühlt
veranlasst: Versorgung der Wunden, Desinfektion; bei tieferen Verletzungen sterile Verbände
zur Beobachtung stationär; evtl. Dermatologen hinzuziehen
     
    »Gefährliche Körperverletzung«, sagte Masaryk.
    Sälzer starrte auf das Foto, das der Krankenakte beilag. Das Mädchen. Die Wunden. Nahaufnahmen. Er schloss die Augen. Zu spät.
     Sie waren schneller, die Schmerzen. Am ganzen Körper. Den Füßen, den Beinen, am Rumpf, am Oberkörper, den Armen. Er spürte
     die Stiche. Sie waren tief, rissen die Haut auf. Bohrten sich ins Fleisch.
    Abrupt öffnete Sälzer die Augen, ließ die Krankenakte mit dem Foto auf den Schreibtisch fallen und fuhr sich mit den Händen
     über Arme und Beine. Er wollte den Schmerz wegwischen. Ihn ersticken wie ein Feuer. Sälzer fluchte innerlich. Hörte das denn
     nie auf? Wurde er niemals immun dagegen? Er kanntediese Schmerzen, so weit er zurückdenken konnte. Es genügte ein Blick, ein Wort, manchmal nur ein Gedanke. Für eine Sekunde
     waren die Wunden der anderen seine Wunden. Er spürte ihre Schmerzen nach, beklemmend intensiv. Er konnte nichts dagegen tun,
     wusste nicht, wie er sich wehren sollte. Schon als Kind war es so gewesen. Eine fragwürdige Begabung. Vor allem, wenn man
     Polizeihauptmeister war.
    »Ist Ihnen kalt?« Masaryk musterte seinen Chef, der sich noch immer über Arme und Beine fuhr.
    »Im Gegenteil.« Sälzer zwang sich, die Hände ruhig zu halten. »Können wir zu ihr?«
    Masaryk nickte. »Das Krankenhaus hat eben angerufen. Sie ist vernehmungsfähig.«
    Sälzer stand auf. »Dann mal los. Krankenbesuch.« Er nahm das Basecap, das er über die Schreibtischlampe gehängt hatte, und
     setzte es auf. Sälzer sammelte Basecaps. Sie waren praktisch. Schützten vor Kälte und Regen. Ersetzten eine Frisur. Vielleicht
     hatte er sich drei oder vier Basecaps selbst gekauft, doch der Großteil seiner Sammlung bestand aus Werbepräsenten und Geschenken
     von Kollegen, Freunden, Feinden oder Verwandten.
    Das Basecap, was Sälzer heute trug, war grasgrün und auf der Front war die Christusfigur von Rio de Janeiro aufgedruckt. Christus,
     der Erlöser, dachte Sälzer. Wie passend.
    ***
    Sie hat die Augen halb geschlossen. Wie Marlene Dietrich auf dem Foto mit der Zigarette. Ihre Wimpern, lang und schwarz, zittern.
     Feine Gräser im Wind.
    Das Deckenlicht flackert. Grell. Monoton. Die Wände sind weiß. Das Bett neben ihr unberührt. Steril. Jegliches Leben wurde
     mit Desinfektionsmittel weggeputzt.
    Ich bin ein großer, lauter Klecks in einem Stummfilm.
    An der Wand gegenüber ein Bild von einer Frühlingslandschaft. Pastellfarben, ausgelaugtes Leben, schaler Geschmack. Als wurde
     es für ein Krankenhaus gemalt. Oder für eine Behörde. Oder für ein
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