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Traenenengel

Traenenengel

Titel: Traenenengel
Autoren: Franziska Gehm
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anderes Gebäude, das man schnell wieder verlassen möchte.
    Irgendwo piept ein Gerät. Gummisohlen quietschen auf Linoleumboden. Ein Esswagen rollert vorbei. Über allem dieser Geruch.
     Giftiger Nebel. Er dringt in ihre Haare, ihre Haut, ihre Zellen. Lähmt bis ins Innerste. Sie möchte duschen, tagelang. Alles
     abduschen, wegduschen, bis auf die Knochen.
    Die Knochen. Das Einzige, was noch unversehrt ist. Sonst fressen sie die Wunden auf. Außen, innen, überall.
    Ihr Blick wandert durch den Raum. Kein Halt in der Nüchternheit, die sie umgibt. Eine weiße Lilie auf dem weißen Tisch neben
     ihrem weißen Bett.
Und ich die schwarze Katze
.
    Ihre Mutter hat sie gebracht.
Es tat so gut, sie zu sehen. Und so weh
. Sie kam allein. Kein Zuhälteraftershave. Nur ihr Minzkleeparfüm. Kein schmaler Mund, kein kalter Blick. Nur ihr weiches
     Lächeln, ihre wässrigen Augen. Waren voller Liebe, voller Sorge. Waren so warm,es brannte in ihrer Brust. Ihre Hand zerfloss in ihrer. Wollte eins werden.
    Sie legte den Kopf in ihren Schoß. Wie damals am Meer, Kilometer und viele Sommer entfernt. Lauschte ihrem Herzschlag.
    Pa-ram. Pa-ram. Pa-ram.
    Flo-ra. Flo-ra. Flo-ra.
    Schweigen wie ein warmes Bad.
    Nur atmen. Nur da sein. Eine Blase im Hier.
    Dann tat sie es doch. Sie fragte.
    Was ist passiert?
    Sie schwieg.
    Sie hatte keine Antwort.
    Wir müssen Anzeige erstatten, gegen unbekannt.
    Müssen wir?
     
    Sie schläft ein. Unruhiger Schlaf, ein Sturm in der Nacht, der Gedanken aufwirbelt. Träumt von ihm. Von der Nacht. Und vom
     See.
    Sie wälzt sich. Schweißperlen auf der Stirn. Die Lippen trocken. Formen lautlos die Frage.
    Kommt er zurück?
    Kommt er zurück?
    Kommt er zurück?
     
    Sie schläft, wacht auf. Schläft. Wacht auf. Weiß nicht mehr, wer, wo, warum sie ist. In einer Zwischenwelt gefangen. Sekunden,
     Minuten, Stunden? Sie will raus aus diesem Traum. Doch wo beginnt die Wirklichkeit?
    Jemand berührt sie an der Schulter. Streicht ihr die Haare aus der Stirn. Sie hört wieder ein Gerät piepen. Nimmt widerwillig
     den sterilen Geruch wahr. Langsam öffnet sie die Augen.
     
    Die Polizei ist da. Mit Dreitagebart und Bauchansatz, halblangen Haaren und einsamen Augen. Setzt das Basecap ab. Jesus. Der
     Erlöser. Stellt Fragen.
    Erst wie eine Melodie.
    Wie geht es dir jetzt?
    Kommst du bald raus?
    Hattest du schon Besuch?
    Dann wie ein Schlagbohrer.
    Wieso warst du nachts am See?
    Warst du alleine?
    Wie bist du auf die Badeinsel gekommen?
    Hast du jemanden gesehen?
    Kannst du dich an irgendetwas erinnern?
    Sein Assistent, blond, jung, Augen voller Hunger auf Leben, will mitschreiben.
    Es gibt nichts zum Mitschreiben.
    Es gibt keine Antworten.
    Nur ihr Lächeln.
     
    Sie ist wieder allein. Vor dem Fenster klettert die Sonne über das Krankenhausdach. Die Sonne, die nichts gesehen hat. Die
     jeden Morgen aufgeht und ihr Licht auf die Abgründe der vergangenen Nacht wirft. Die immer zu spät kommt. Die Nacht bleibt
     ihr verborgen. ImDunkeln bleibt, was geschah, nur was ist, kommt ans Licht.
    Langsam fährt sie sich mit der Hand über den Arm. Dann über den Bauch, die Oberschenkel. Verbände bedecken ihren Körper. Sollen
     heilen, was nie heilen wird. Die Wunden darunter bleiben. Sie brennen. Sie hämmern. Sie ziehen. Bei jeder kleinsten Bewegung.
     Wunden, so tief und immer da. Auch, wenn sie ganz still liegt.
    Nur atmet.
    Nur ist.
    Sie lässt die Hand sinken. Sie schließt die Augen.
    Ich bin die Sonne
. Es gibt nur den Tag. Keine vergangene Nacht.
Ich bin die Sonne.
Die Nacht ist immer nur dort, wo die Sonne nicht ist.
Ich bin die Sonne. Ich war nicht da. Für mich existiert keine Nacht. Keine letzte Nacht.
    ***
    Trixi trat mit der Zeitung unter dem Arm aus der Tür, die auf den Schulhof führte. Jemand hatte die Zeitung unter der Bank
     liegen gelassen. Sie war auf der Seite mit den Lokalnachrichten aufgeschlagen und sah aus, als wäre sie eine Woche alt, so
     zerlesen war sie. Doch es war die aktuelle Ausgabe des Telpener Tagesblattes.
    Trixi ignorierte den Schülerstrom, der an ihr vorbei und auf den Schulhof drängte, begierig, über die großen Neuigkeiten zu
     reden. Sich das Maul zu zerreißen. Oder irgendwo eine zu rauchen. Sielehnte sich mit der aufgeschlagenen Zeitung an die rotbraune Backsteinwand des Schulgebäudes und las.
     
    Schwerverbrecher aus Telpener Gefängnis ausgebrochen
    Ist er der brutale Messerstecher vom See?
     
    Wie erst jetzt offiziell bekannt wurde, ist in der Nacht vom 2. auf den 3.  
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