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Totsein verjaehrt nicht

Titel: Totsein verjaehrt nicht
Autoren: Friedrich Ani
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für Scarlett gekauft.« Marcel senkte den Kopf. »Obwohl gar keine Leiche da ist. Menschenverachtend ist das. Die Frau hat ein Hassgeschwür im Herzen.«
    Und Fischer dachte: Falls Scarlett tatsächlich am Leben ist und sich sechs Jahre lang versteckt oder bei jemandem, dem sie vertraut, Unterschlupf gefunden hat, warum sollte sie dann jetzt mit ihrer Mutter Kontakt aufnehmen wollen? Oder mit ihrem Vater? Warum läuft sie dann vor ihrem besten Freund davon? Hat sie ihn, anders, als er glaubt, auf dem Marienplatz nicht erkannt?
    »Nein«, sagte Fischer. »Sie war neun, sie konnte nicht allein überleben. Und wenn sie entführt wurde, dann von jemandem, der sie missbraucht und getötet hat, und wenn sie nicht getötet worden wäre, sondern fliehen hätte können, wäre sie trotz der Konflikte mit ihrer Mutter nach Hause zurückgekehrt, und wir hätten den Täter gefunden und den Fall abgeschlossen.«
    Als hätte er nicht zugehört, sagte Marcel: »Jockel wars nicht.«
    Dass der geistig zurückgebliebene, inzwischen dreißig Jahre alte Jonathan Krumbholz, genannt Jockel, schuldig war, glaubte Polonius Fischer – bei allem Respekt für die Arbeit des Gutachters und der Bundesrichter – so wenig wie damals. Es spielte keine Rolle, was er glaubte. Er war Mordermittler, kein Mönch.
    Da fiel ihm ein, dass er im Krankenhaus noch kein einziges Mal gebetet hatte. Vor lauter Bangen musste er es vergessen haben.
    Marcel schaute ihn irritiert an.
    Sie standen vor der Tür auf dem Bürgersteig, und Fischer fragte sich, wann er vom Tisch aufgestanden war und das Lokal verlassen hatte.
    »Sie haben es versprochen«, sagte Marcel.
    »Ja.« Was hatte er versprochen? Wann?
    »Sie sind der Allereinzige, der Scarlett finden kann.« Marcel ruckte mit dem Kopf. »Ich muss meine Cola noch zahlen.«
    »Die bezahle ich. Was erzählst du deinen Eltern, wo du so lange warst?«
    »Ich sag, ich war recherchieren.«
    »Was recherchierst du denn?«
    »Das Leben.« Ein geisterhaftes Lächeln flog um seinen Mund. »Ich möcht später Dokumentarfilme machen. Bis jetzt arbeit ich nur mit dem Handy, ich beobachte Leute, ich such mir unauffällige Ecken und wart, was passiert. Und es passiert eine Menge, wenn man am wenigsten damit rechnet.« Er hob die Hand, wandte sich um und schlurfte bei Rot über die Kreuzung, nach vorn gebeugt, die Hände in den Taschen, ein lederner Schatten im nebeligen Dunkel.
    Mit einem schnurrenden Geräusch fuhr eine blaue Tram der Linie 27 vorüber, hell erleuchtet. Die Fahrerin drückteauf die Klingel und sah in Fischers Richtung, als wollte sie ihn grüßen. Sie trug ein grünes Halstuch. Fischer sah der Straßenbahn hinterher und fror.
     
    Die zweite Nacht im Hotel verbrachte er im Stehen am geschlossenen Fenster. Leblos und abweisend ragten die Bäume des Ostfriedhofs hinter der Steinmauer in den Himmel, links blinkte gelb die Ampel, bis sie gegen fünf Uhr morgens auf Normalbetrieb schaltete. Autos rasten stadtauswärts, zwei Streifenwagen mit Blaulicht in die entgegengesetzte Richtung.
    Er hatte seine Hose und ein schwarzes Sweatshirt an, es war warm im Zimmer. Den lächerlichen Versuch einzuschlafen hatte er nach zehn Minuten aufgegeben. Er wollte das Zimmer verlassen und nach Großhadern fahren. Doch der Professor hatte gesagt, es habe keinen Sinn, wenn er dabliebe. Es hatte also keinen Sinn, wenn er da war. Natürlich nicht, dachte er am Fenster von Zimmer 105. Was nützte sein Dasein in Gegenwart einer maßlosen Ferne? Ann-Kristins Körper war keine Anwesenheit. Sondern ein Trugbild, wie das Mädchen auf dem Marienplatz, dessen Haarfarbe ihm nicht mehr einfiel. Zum Zeitpunkt von Scarletts Verschwinden hatte ihre Mutter Beziehungen mit drei verschiedenen Männern gehabt, die nichts voneinander wissen durften. Fischer hatte sie mehrmals befragt. Seiner Einschätzung nach hatte kein einziger von ihnen eine echte Beziehung mit Michaela Peters, sie schliefen bloß mit ihr, zwei von ihnen waren verheiratet. Der dritte hieß Hanno Rost. Nach der Aussage des Rechercheurs Marcel dauerte das Verhältnis zwischen ihm und Michaela bis heute an, sie war sogar zu ihm gezogen.
    Fischer dachte an die täglichen Berichte in den Zeitungen und die Polemiken gegen ihn, als er abgelöst wurde.
    Dann begann er durchs Zimmer zu schlurfen, barfuß, inGedanken an einen Mann, bei dem er nichts zu suchen hatte, dessen Geschichte längst zu Ende war, der nicht einmal mit ihm sprechen musste, der ihn auslachen würde. Als Versager würde
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