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Totsein verjaehrt nicht

Titel: Totsein verjaehrt nicht
Autoren: Friedrich Ani
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müssen, im Sport, zwei Stunden extra Basketball, ich hasse Basketball. Ich mag Sport nicht.« Er griff zum Glas, ließ es aber stehen. »Entschuldigung. Das war wieder so eine fiese Nummer vom Reisinger.«
    »Du gehst in die neunte Klasse«, sagte Fischer. Er bildetesich ein, dass die Frauen am Nebentisch wieder über ihn tuschelten.
    »Bin in der Achten durchgefallen. Wegen Chemie und Physik. Das war auch so eine Gemeinheit. Eigentlich hätt ich in Physik eine Vier kriegen müssen, aber der Lehrer hat mir im Mündlichen eine Fünf gegeben, weil ich mich nie meld und mitmach. Was soll ich mich melden, wenn ich nichts check?«
    »Jetzt in der Neunten hast du bessere Noten.«
    »Geht so. Darf ich Sie was fragen?«
    Fischer reagierte nicht. Er hatte nicht zugehört, auch nicht den Frauen am Nebentisch. Er hatte wieder das stumme Gesicht gesehen, die Teile des stummen Gesichts, die noch zu sehen waren.
    »Sie sehen echt blass aus.« Marcel erhielt keine Antwort. »Sie schauen aus, als hätten Sie ewig nicht geschlafen.« Nach einem Moment fügte er hinzu: »Entschuldigung.« Aus Verlegenheit trank er sein Glas leer. Endlich sah Fischer ihn an.
    »Deine Freundin Scarlett wäre heute fünfzehn. Du bist sechzehn, und du warst zehn und sie neun, als ihr euch zum letzten Mal gesehen habt. Du glaubst, sie hat dich wiedererkannt. Du hast dich bestimmt sehr verändert.«
    »Nicht so sehr«, sagte Marcel schnell. »Und sie auch nicht. Wenn der Bulle … der Polizist nicht gekommen wär, hätten wir miteinander gesprochen, ganz sicher.«
    Fischer richtete sich auf. Ich bin, dachte er, Hauptkommissar, ich führe ein Gespräch mit einem Zeugen, ein informelles Vorgespräch.
    »Warum, glaubst du, hat sie nicht auf dich gewartet?«, sagte er.
    Anscheinend hatte Marcel sich diese Frage auch schon oft gestellt. »Weil, sie wollt nicht erkannt werden«, sagte er aufgeregt.»Sie hat ein Geheimnis. Sie lebt doch jetzt ein anderes Leben. Sie ist erschrocken, als sie mich plötzlich gesehen hat.«
    »Sie ist so erschrocken wie du.«
    »Genau. Und dann war da auch noch der Bulle, der hat sie vielleicht auch gesehen. Der hat sie nicht wiedererkannt, ist ja klar.«
    »Scarlett führt kein anderes Leben«, sagte Fischer. »Sie hätte keinen Grund dazu.«
    »Sie haben überhaupt keine Ahnung.« Marcel schwitzte, rückte mit dem Stuhl, der Ledermantel gab ein Geräusch von sich, seine schwarzen Augen glänzten. »Die Scarlett wollt immer schon ein anderes Leben, die wollt nicht mit ihrer Mutter und der ihren blöden Liebhabern leben, sie wollt weg aus Ramersdorf, sie wollt Fußballspielerin werden, Profi werden. So war die.«
    »Sie war neun Jahre alt.«
    »Glauben Sie, Neunjährige haben keine Wünsche und Ziele? Glauben Sie, Kinder haben nichts im Hirn, bloß weil sie noch klein sind? Haben Sie Kinder?«
    »Nein.« Nein, dachte Fischer, keine Kinder, wir haben keine Kinder. Das stumme Gesicht. Kinderlos.
    »Kinder wissen genau, was sie wollen«, sagte Marcel. »Und Scarlett wär sofort mit jemand mitgegangen, der ihr ehrlich versprochen hätt, dass er ein anderes Leben für sie macht. Da wär sie weg gewesen.«
    An solche Aussagen – weder von Marcel noch von jemand anderem – konnte Fischer sich nicht erinnern.
    »Wahrscheinlich hat sie jemand getroffen, der ihr das versprochen hat. Sonst hätt ich sie ja nicht sehen können. Sie lebt, und sie schaut gut aus. Ich hab sie nur kurz gesehen, zehn Sekunden ungefähr, das hat gereicht.«
    »Meinen Kollegen hast du von Scarletts Träumen vorsechs Jahren nichts erzählt.« Wie leicht Fischer dieser Satz gefallen war. Ohne es zu bemerken, verzog er den Mund.
    »Sie brauchen gar nicht so zu grinsen, ich verrat doch ihre Träume nicht.«
    »Das verstehe ich«, sagte Fischer, verwundert darüber, dass er angeblich gegrinst hatte. Dann dachte er, wie automatisch, als Polizist: Soeben hat Marcel zugegeben, ihn, Fischer, und die Fahndung manipuliert zu haben. Sowohl Marcel als auch Scarletts Mutter hatten behauptet, das Mädchen sei schüchtern gewesen, gegenüber Fremden zurückhaltend und in Gegenwart von Erwachsenen eher abweisend als zutraulich. Diese Einschätzung teilte auch die Grundschullehrerin. Niemand in der Sonderkommission hatte Marcels Taktik durchschaut.
    »Scarlett lebt«, sagte der Junge.
    Fischer warf einen Blick auf Marcels bleiche, zitternde Hände. »Wenn Scarlett heute ein Leben führt, das ihr besser gefällt als das alte, warum möchtest du dann, dass ich sie finde und
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