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Totsein verjaehrt nicht

Titel: Totsein verjaehrt nicht
Autoren: Friedrich Ani
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niemand wusste, wohin und was überhaupt passiert war. Das war sehr schlimm.
    Ich war mit Scarlett gut befreundet. Wir sind fast jeden Tag zusammen in die Grundschule gegangen, wir wohnten in derselben Straße (Lukasstraße). Manchmal hat sie mir von ihrer Mama erzählt, die in einem Krankenhaus arbeitet. Ihren Vater hat sie fast nicht gekannt, weil der ihre Mama bald schon verlassen hat. Wenn ich Scarlett was gefragt habe, hat sie nicht gern geantwortet, sie war immer sehr still. Aber das hat mir nichts ausgemacht, ich bin gern mit ihr zur Schule gegangen. Oft sind wir auch gemeinsam von der Schule nach Hause gegangen.
    Wenn irgendwo ein Ball rumgelegen ist, hat sie ihn durch die Gegend geschossen. Fußball spielen fand sie super. Ich habe noch nie ein Mädchen gesehen, das lieber Fußball spielt, als irgendwas anderes zu tun. So war die Scarlett.
    Und dann war sie verschwunden, und wir haben alle in der Schule beim Suchen geholfen. Sie ist nicht wiedergekommen. Ich habe sie sehr vermisst. Das Vermissen hat gar nicht mehr aufgehört. Sie sind der erste Mensch, dem ich das sage.
    Ich habe alle Zeitungsartikel über Scarlett ausgeschnitten und in einer Schachtel gesammelt. Das weiß niemand. Das Vertrauen in die Mordkommission habe ich eigentlich verloren, in Sie aber noch nicht, Herr Fischer. Sie glauben mir, das weiß ich, und Sie werden jetzt, wenn Sie lesen, was ich erlebt habe, handeln und sich von Ihren Kollegen und Vorgesetzten nicht einschüchtern lassen. Das hoffe ich jedenfalls.
    Ich habe Scarlett Peters erkannt …
     
    Zum vierten Mal las er den Brief, den er von zu Hause mitgebracht hatte, und wieder verschwammen die Zeilen vor seinen Augen. Wieder trank er erst einen Schluck Wasser, bevor er über das nachdachte, was da stand und was er längst wusste. Er hatte begriffen, dass er, wenn er immer wieder über die Sätze des Schülers nachdachte, eine Weile von allem anderen verschont wurde, das ihn seit Tagen um den Verstand brachte.
    Nie hatte Polonius Fischer so sehr an seinem Verstand gezweifelt wie seit dem Moment, als ein Streifenpolizist ihm die Nachricht von Ann-Kristins Auffindung überbracht hatte. Wir haben sie aufgefunden, sagte der Kollege. In dieser Sekunde glaubte Fischer zu ersticken.
    Wie damals in der Zelle. Als er nach endlosem Schreien keine Luft mehr bekam und ohnmächtig wurde.
    Geschrien hatte er noch nicht. Auch hatte er nicht das Bewusstsein verloren. Vielmehr hatte er einen Grad von Wachheit erreicht, der ihn umso mehr quälte, je länger er andauerte.
    Ann-Kristins Auffindung.
    Am selben Abend, gestern, hatte er seine schwarze Reisetaschegepackt und war von seiner Wohnung in der Sonnenstraße in östlicher Richtung gegangen, durch die Fraunhoferstraße den Nockherberg hinauf, mit ausladenden Schritten, in seinem dunkelblauen Wollmantel, den Stetson tief in die Stirn gezogen. Er brauchte nur eine halbe Stunde. Das Zimmer kostete fünfundsiebzig Euro. Den Namen der Pension hatte Ann-Kristin vor Kurzem erwähnt, sie hatte nachts einen Gast dort abgesetzt und ein paar Worte mit der Wirtin gewechselt. Tatsächlich hatte Fischer dieses Gespräch erwähnt, als er im Hotel Brecherspitze anrief.
    Warum er das getan hatte, wusste er nicht. Ein Sonderpreis, sagte Anita Berggruen. Vermutlich hätte er auch jeden anderen Preis bezahlt. Das Zimmer ging auf die St.-Martinstraße und die Mauer des Ostfriedhofs, es roch nach Farbe und Politur. Möbel aus hellem Holz, das Bad weiß gefliest, die Wände waren neu gestrichen worden, genau wie unten in der Gaststube.
    Von seinem Platz bei der Eingangstür schaute Fischer zu einem langen Tisch, in dessen Mitte fünf Kerzen auf einem pyramidenförmigen Ständer brannten. Die sechzehn Gäste trugen dunkle Kleidung. An Fischers Nebentisch unterhielten sich zwei ältere Frauen über die Krankheiten ihrer Männer, sie lachten viel hinter vorgehaltenen Händen. Auch über Fischer tuschelten sie, und er tat, als bemerke er es nicht.
    Er sah auf die Uhr. Eine halbe Stunde war vergangen, und er dachte, wie gern er noch länger warten würde. So hätte er eine Aufgabe. Er strich über das karierte Blatt Papier, lauter krumme, aber gut lesbare Buchstaben, geschrieben mit schwarzem Kugelschreiber.
    Sein Wasserglas war leer. Wie für ein offizielles Gespräch hatte er eine Krawatte umgebunden, sorgfältig, vor dem Spiegel, oben in Zimmer 105. Als müsse er gleich ins Dezernat zu einer Vernehmung aufbrechen.
    Im P-F-Raum saß kein Verdächtiger. Da war nichts als
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