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Totsein verjaehrt nicht

Titel: Totsein verjaehrt nicht
Autoren: Friedrich Ani
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16.30 Uhr nicht im »Akropolis« in der Jäcklinstraße, Ecke Berger-Kreuz-Straße, auf. Nach eigener Aussage und den Erklärungen seiner Frau sowie einiger Gäste war er mit dem Opel zum Tanken gefahren, hatte Einkäufe erledigt und sich danach zu Hause eine Stunde hingelegt.
    Er hätte Zeit gehabt, die Leiche des Mädchens wegzuschaffen.
    Niemand im Restaurant erinnerte sich an Jockels Auftauchen. Der dickliche junge Mann widersprach sich bei seinen Schilderungen, wie und wo er seinem Vater von dem Verbrechen erzählt hatte.
    Der damalige Leiter der Sonderkommission hielt den nach einer frühkindlichen Hirnhautentzündung auf der Entwicklungsstufe eines Zehnjährigen stehen gebliebenen Jockel nicht für einen potenziellen Verbrecher, sondern für einen Sprücheklopfer und Geschichtenerzähler, der alles bestätigen würde, wenn man ihn nur geschickt genug manipulierte. So war es später für den erfahrenen Hauptkommissar aus der Mordkommission keine Überraschung, als Jockel nach nur zwei Tagen sein Geständnis ausgerechnet gegenüber einem Gutachter widerrief. Dieser hatte den vollkommen Erschöpften nach siebenundzwanzig Vernehmungen – protokolliert auf fünfhundertvierunddreißig Seiten – erneut zum Tathergang befragt.
    Nach einem Jahr härtester Ermittlungsarbeit im Team mit siebzig Kolleginnen und Kollegen aus ganz Bayern, nach der akribischen Auswertung von mehr als fünftausend Hinweisen und der weit über die Grenzen der Bundesrepublik hinausreichenden Suche nach der Leiche des Mädchens musste der Chef der Soko aufgrund einer bis dahin einmaligen Intervention des Innenministers seinen Platz räumen.
    Sein Nachfolger präsentierte innerhalb weniger Tage der Öffentlichkeit den vorher längst befragten Jockel Krumbholz zunächst als Hauptverdächtigen, dann als mutmaßlichen Täter. Trotz einer Unmenge widersprüchlicher und undurchsichtiger Aussagen, trotz der Tatsache, dass weder Scarletts Leiche gefunden werden noch der exakte Ablauf ihrer Ermordung und der Beseitigung ihrer Leiche rekonstruiert werden konnte, trotz zwielichtiger Vernehmungsmethoden, bei denen ein geistig zurückgebliebener Mann ohneAnwalt stundenlang ins Kreuzverhör genommen worden war, trotz des Widerrufs seines Geständnisses und des völligen Fehlens eindeutiger DNA- und Fingerspuren wurde Jockel Krumbholz als Mörder verurteilt.
    Scarletts getrennt lebende Eltern zeigten sich vor der Presse erleichtert.
    Eberhard und Luisa Krumbholz mussten nach der Verurteilung ihres Sohnes ihr griechisches Restaurant aufgeben. Sie übernahmen ein Pilsstüberl in der Nähe des Michaelibads in Ramersdorf.
    Der Leiter der ersten Soko »Scarlett«, der auf Anweisung seines obersten Vorgesetzten abgelöst worden war, arbeitete weiter im Kommissariat III . Sein Name: Polonius Fischer.
     
    Sechs Jahre nach dem Verschwinden von Scarlett Peters und drei Jahre nach der Verurteilung von Jonathan Krumbholz schrieb ein Schüler einen Brief an die Kripo. Er habe eine Beobachtung gemacht, die ihn so erschütterte, dass er keine Nacht mehr schlafen könne. Und obwohl er nach allem, was im Fall Scarlett passiert sei, das Vertrauen in die Arbeit der Mordkommission »eigentlich verloren« habe, wende er sich an den einzigen Kommissar, von dem er überzeugt sei, er werde ihm, Marcel Thalheim, glauben und sich von niemandem einschüchtern lassen.
    »Ich habe«, schrieb der Jugendliche am Ende seines Briefes, »Scarlett Peters gesehen, mitten auf dem Marienplatz, unter lauter Leuten. Sie drehte sich sogar zu mir um. Sie hat mich erkannt. Ich wollte sofort zu ihr hinlaufen. Dann habe ich aus Versehen einen Polizisten angerempelt, und der wollte meinen Ausweis sehen. Als ich wieder nach Scarlett Ausschau gehalten habe, war sie verschwunden. Ich bin total sicher, dass sie es war. Sie lebt also, und Sie, Herr Fischer, sind der Allereinzige, der sie finden kann.«

ERSTER TEIL

1
»Auf dem Schulweg und im richtigen Leben«
    Sehr geehrter Herr Fischer,
    bestimmt wissen Sie nicht mehr, wer ich bin, das macht nichts. Ich heiße Marcel Thalheim, bin sechzehn Jahre alt und gehe in die Wilhelm-Röntgen-Realschule. Vor über sechs Jahren haben Sie mal kurz mit mir gesprochen, und dann habe ich noch bei einem Ihrer Kollegen eine Aussage gemacht, ich glaube, sein Name war Schell, aber sicher bin ich mir nicht. Er hat das, was ich gesagt habe, in seinen Computer geschrieben und ausgedruckt, und ich habe alles unterschrieben. Es ging um Scarlett Peters, die verschwunden war, und
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