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Totsein verjaehrt nicht

Titel: Totsein verjaehrt nicht
Autoren: Friedrich Ani
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zurückbringe?«
    »Das möcht ich nicht.«
    »Bitte?«
    »Ich möcht nicht, dass Sie sie zurückbringen.«
    Fischer schwieg. Ohne an etwas anderes zu denken.
    »Ich möcht, dass Sie sie finden und ihr sagen, dass ich auf sie wart.«
    »Du wartest auf sie«, sagte Fischer gegen seine Sprachlosigkeit an.
    »Wir haben uns gegenseitig versprochen, dass wir immer auf uns warten. Auf dem Schulweg und im richtigen Leben.«
    Auf dem Schulweg und im richtigen Leben. Vielleicht, dachte Fischer, sollte Marcel aufhören, bestimmte Gräser zu rauchen, und etwas mehr Realität inhalieren.
    »Ich werde Scarlett nicht suchen«, sagte er.
    »Aber das müssen Sie doch!« Erschrocken senkte Marcel die Stimme. »Ein unschuldiger Mensch sitzt im Gefängnis.«
    Und als wäre alles wie immer, erwiderte der Kommissar: »Er ist rechtskräftig verurteilt worden. Der Bundesgerichtshof hat das Urteil bestätigt.«
    »Scarlett lebt.« Marcel fingerte in den Taschen seines Mantels. »Sie hat meine Kette getragen auf dem Marienplatz, schwarze runde Steine, die hab ich ihr zum neunten Geburtstag geschenkt. So eine Kette hat sonst niemand. Und die hab ich bei ihr gesehen. Ich schwörs. Außerdem hat sie eine Narbe auf der linken Backe. Hab ich genau gesehen.« Er zog ein Päckchen Tabak aus der Tasche.
    »Du hast die Kette und die Narbe wiedererkannt.«
    »Ja.«
    »Wie weit warst du von ihr entfernt, Marcel?«
    »Fünf Meter. Höchstens zehn.«
    »Im Gedränge auf dem Marienplatz.«
    »Am Faschingssamstag, am zweiten Februar, hab ich doch in dem Brief geschrieben.«
    »Nein.«
    »Echt?«
    »Du hast nicht ihren Namen gerufen.«
    »Wollt ich grad, da kam der Bulle.«
    »Sie hat deinen Namen auch nicht gerufen.«
    »Weiß ich nicht. Nein. Sie hat mich angeschaut. Und ich hab ganz genau die Kette gesehen und die Narbe.«
    Scarlett sei als Sechsjährige beim Spielen hingefallen und habe sich im Gesicht verletzt, hatte ihre Mutter damals behauptet. Ob die Narbe tatsächlich daher rührte, blieb ungeklärt.
    »Waren viele maskierte Leute auf dem Marienplatz?«, sagte Fischer.
    »Was? Entschuldigung. Nein, nicht so viele Leute. Ichwürd gern eine rauchen, macht Ihnen das was aus? Dauert nur zwei Minuten.«
    »Geh nur«, sagte Fischer. Er musste sowieso telefonieren.
    »Bin gleich wieder da.« Marcel nahm das Tabakpäckchen und stand auf. Die Gäste schauten wieder zu ihm her. Im Gehen zog er etwas aus der Tasche und kam noch einmal zurück. »Haben Sie das gelesen?« Er legte eine zusammengeknüllte Zeitung auf den Tisch. »Da gehts um Sie.« Als er die Tür öffnete, flackerten wieder die Kerzen am Tisch der Trauernden.
    Fischer strich die Zeitung glatt, sie war von diesem Tag, 13. Februar. Er hatte sie am Morgen nicht gelesen, nur gesehen. Auf der ersten Seite prangte zweispaltig sein Foto. Der Bericht handelte vom Überfall auf ein Taxi, dessen neunundvierzigjährige Fahrerin zunächst drei Tage lang spurlos verschwunden war, bevor ein Spaziergänger die schwer misshandelte, halb bewusstlose Frau am Nachmittag des 12. zufällig in einem Abbruchhaus in Harlaching bemerkte. Die Ärzte versetzten sie in ein künstliches Koma, ihr Zustand sei lebensbedrohlich. In den vergangenen Monaten waren nachts im Stadtgebiet bereits fünf Taxifahrer beraubt, einer von ihnen erstochen und die anderen vier schwer verletzt worden. Nach den Erkenntnissen der Polizei – der jüngste Überfall hatte in der Nacht zum vergangenen Sonntag stattgefunden – hätten die Täter, so die Zeitung, aus noch ungeklärten Gründen Ann-Kristin S. aus ihrem Taxi gezerrt und verschleppt. Deren Lebensgefährte, dessen Foto abgedruckt war, arbeite in der Mordkommission.
    Vor lauter Angst redete Fischer sich ein, er müsse erst das Gespräch mit Marcel beenden, bevor er – zum dritten Mal an diesem Tag – im Krankenhaus anrief.

2
»Die Frau hat ein Hassgeschwür im Herzen«
    Als er zurückkam, sah er aus, als habe jemand sein Gesicht mit einem grauen Leintuch bespannt.
    Mit lebloser Miene ließ Marcel sich auf den Stuhl fallen, umwabert von einem süßlichen Geruch, der Fischer an die Zeiten erinnerte, als seine Freunde spezielle Pilze in der Pfeife rauchten, deren Substanzen sie angeblich in glückvolle Zustände versetzten. Dass der sechzehnjährige Gymnasiast sich in der Nähe des Glücks befand, bezweifelte Fischer. Eher sah Marcel aus wie ein Geist, der aus der Geisterbahn vertrieben worden war und nicht begriff, wieso.
    Mit müden Augen schaute Marcel sich um, von einem Tisch, von
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