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Totsein verjaehrt nicht

Titel: Totsein verjaehrt nicht
Autoren: Friedrich Ani
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Begrüßung hatte sie erklärt, »Herr Rost« habe sie angerufen und vorgewarnt und sie habe nicht die Absicht, irgendetwas zu erzählen. Außerdem habe sie keine Zeit, weil sie wegen der Verspätung des Zuges aus Weimar schon zwei Termine habe verschieben müssen, was immer zu Ärger bei Ärzten und Schwestern führe.
    Fischer hatte versprochen, nicht länger als zehn Minuten zu bleiben. Kaum hatte er die Tür hinter den beiden Schwestern geschlossen, stieß Michaela Peters einen Fluch aus und setzte sich mit verächtlicher Miene auf einen der vier Plastikstühle. Sie zündete sich eine Zigarette an, sog, wie ihr Freund, den Rauch vollständig ein, blickte angewidert in Fischers Richtung und wandte sich ab.
    Während sie rauchte, sprach sie kein Wort. Sie verzog denMund, drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und hob mit einem Ruck den Kopf.
    »Jemand hat also meine Tochter gesehen«, sagte sie. »Und wieso ist die Scarlett dann nicht hier?«
    »Hat sie sich bei Ihnen gemeldet?«
    »Das haben Sie meinen Mann schon gefragt.«
    »Sind Sie verheiratet?«
    Ihr Blick fegte über Fischers Gesicht. Sie griff nach der Zigarettenschachtel auf dem Tisch – sie rauchte Lucky Strike, dieselbe Marke wie Rost – und nahm die Zigarette noch einmal aus dem Mund, bevor sie sie anzündete.
    »Nein, Herr Fischer.« Mit der Faust, in der sie das Feuerzeug hielt, strich sie über ihr Bein.
    Sie trug einen weißen Kittel und blassgelbe Sportschuhe und hatte die Beine übereinandergeschlagen. Für ihre breiten Hüften und ihre stämmige Figur war der Kittel eine Nummer zu klein. Sie wirkte nicht dick, eher kraftvoll, dennoch lag in ihren Augen ein Ausdruck von Resignation und Ratlosigkeit. Sie versuchte ihre Empfindungen zu kontrollieren, doch das gelang ihr nur in Momenten angestrengter Konzentration.
    »Nein«, wiederholte sie. »Herr Rost und ich haben nicht geheiratet, und das werden wir auch nicht tun. Warum setzen Sie sich nicht?«
    Sie waren im Tiefparterre. Den Weg hatte Fischer sofort gefunden, auch wenn er den Gang, auf dem das Raucherzimmer war, nicht kannte. Er kannte andere Gänge im Tiefparterre.
    »Ich bleibe nicht lang«, sagte er.
    Sie rauchte, blickte angespannt vor sich hin, lehnte sich gegen die Tischkante. »Ich wollt schon gestern kommen, meine Mutter ließ mich nicht gehen. Sie hat Atembeschwerden, zu hohen Blutdruck, Herzrasen. Sie hat Angst, auf dieStraße zu gehen. Sie hat überhaupt nur noch Angst. Sie glaubt, jemand trachtet ihr nach dem Leben. Wie sie da draufkommt, weiß ich nicht. Sie ist nicht wirklich körperlich krank, sie nimmt Medikamente, schon seit Jahren. Sie ist einfach immer zu viel allein gewesen. Ihr Leben lang. Sie war verheiratet, fast dreißig Jahre, er war Monteur. Er war bei der Partei. Bei der Stasi war er auch, das haben wir nach der Wende erfahren. Er war dann auch gleich weg, zog nach Hamburg, wollte auf einer Werft arbeiten. Meine Mutter blieb in Weimar, hat nichts mehr von ihm gehört. Ich hätt sie mitgenommen in den Westen. Sie blieb lieber allein zurück. Sie war auch schon vorher allein. Solche Menschen gibts. Die haben eine Familie und gehören doch nirgends dazu.«
    Sie sah Fischer an. »Ich hätt Robert geheiratet, wenn er mich gefragt hätt. Hat er nicht getan. Der Ringo. Er hat sich verdrückt, als Scarlett zwei war. Das Kind war ihm zu viel. Zu viel Mensch auf einem Haufen. Und dauernd da, so ein Kind. Tag und Nacht. Ich weiß nicht, wo er inzwischen wohnt. Hat nie einen Pfennig bezahlt. Keinen Pfennig, keinen Cent. Bin ich eben allein geblieben, wie meine Mutter. Das geht. Ich bin gelernte Krankenpflegerin, ich beherrsch meinen Beruf, auch wenn sie mich hier rausekeln wollen. Die denken nämlich wie Sie: dass ich was mit dem Verschwinden meiner Tochter zu tun hab, dass ich sie umgebracht oder verkauft hab. Das seh ich denen an der Stirn an. Seit sechs Jahren denken die das. Ich war vorher im Harlachinger Krankenhaus, da haben das auch alle gedacht. Hier in Großhadern sind sie bloß höflicher, weil sie mich brauchen. Noch.«
    Sie drückte die Zigarette aus. »Und jetzt tauchen auch noch Sie auf, und alles fängt wieder von vorn an. Nicht mit mir, da haben Sie sich verrechnet, mich kriegen Sie nicht mehr auf die Anklagebank.«
    »Sie waren nicht angeklagt«, sagte Fischer.
    »Nein?« Sie unterdrückte ein höhnisches Lachen. »Haben Sie damals keine Zeitungen gelesen? Haben Sie verdrängt, wie Sie und Ihre Kollegen mich behandelt haben? Die Nachbarn? Die Leute auf der
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