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Totenzimmer: Thriller (German Edition)

Totenzimmer: Thriller (German Edition)

Titel: Totenzimmer: Thriller (German Edition)
Autoren: Susanne Staun
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an meinen Vater denken, der einmal an einem Büfett alle Spargelköpfe abgeschnitten und auf seinen Teller geladen hatte, während er dem Kellner ganz selbstverständlich erklärte, wie sehr er diese Spargelköpfe liebte. Schließlich klaute Dr. Madsen mir auch noch mein Schälchen Aioli – meiner Meinung nach auch nur ein etwas schickeresWort für Mayonnaise. Hatten die vielen Jahre in Gesellschaft der Toten ihn verlernen lassen, wie man mit den Lebenden umging, oder hatte er ganz einfach vergessen, dass man zunahm, wenn man mehr Kalorien konsumierte, als man verbrauchte? Sein Bauch war so dick, dass es für ihn jetzt schon die reinste Kunst war, an einem Tisch zu essen.
    Plötzlich unterbrach er sich mitten in einem Satz (es ging um eine Frau) und durchbohrte mich wieder mit seinen Augen. Für einen kurzen Moment schlossen sie sich fast vor Konzentration: »Nun, ja, Sie sind ja wirklich qualifiziert. Lassen Sie mich mal überlegen …« Er richtete seinen Blick auf einen weit entfernten Ort und kaute energisch. »Geboren 1962, Studienbeginn 1980, Medizinabschluss 1988 und 1993 dann Promotion, über plötzlichen Kindstod, nicht wahr? Am Institut für Rechtsmedizin in Kopenhagen haben Sie als Vertretung angefangen und sich seither über die verschiedensten Positionen nach oben gearbeitet, und wenn ich richtig informiert bin, können Sie auch eine recht ansehnliche Publikationsliste vorweisen …« Er sah für einen Moment erleichtert aus, als hätte er etwas sehr Schweres hinter sich gebracht und bräuchte jetzt keine Kraft mehr darauf zu verwenden, all das in seinem Kurzzeitgedächtnis zusammenzuhalten.
    »… verheiratet?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »… Kinder?«
    Ich zögerte, bevor ich wieder den Kopf schüttelte.
    »… stellvertretende Rechtsmedizinerin seit 2006 …« Er legte den Kopf zur Seite und schloss den Mund für einen Moment, bevor er sagte: »… und 2008 stellvertretende Rechtsmedizinerin am Rechtsmedizinischen Institut in Odense.« Er verzog seine vollen Lippen zu einem breiten Lächeln. »Jedenfalls, wenn Sie mich ganz lieb fragen.«
    Ich fragte nicht.
    Das Ganze ging schneller und schneller. Dreimal bestellte er Brot nach, das, mit beunruhigenden Mengen Mayonnaise bepackt, gleich wieder in seinem Mund verschwand und die Worte zwang, sich erst einmal brav hinten anzustellen. Irgendwann war er nur noch ein großer, weit geöffneter Mund, der Fett und Worte zermalmte. Hypnotisiert musste ich an Schweine denken und hatte plötzlich den Gedanken, dass Dr. Madsen einem vermutlich die Möse leckte, wie ein Schwein eine Auster fraß.
    Jetzt war er mitten in einem Vortrag über seine Eröffnungsrede beim Rechtsanthropologischen Kongress, der gleich darauf in einem Lobgesang über die immer größer werdende Anzahl von Rechtsmedizinerinnen endete. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. In knapp zwanzig Minuten ging ein Expresszug nach Kopenhagen. Auch am Tisch neben uns wurden die Leute immer lauter.
    Es schien fast so, als erleichterte es ihn, als er mich wieder mit seinem Blick festhielt und sagte: »Ich kriege zur Zeit so viele Fotzen.«
    Ich schlug den Blick nieder und sah auf meine Beine. Hatte ich irgendetwas an mir, dass er so etwas sagte? Lag es an meinen Kleidern? Oder strömte ich einen Geruch aus, den ich selbst nicht roch? Unweigerlich musste ich mich fragen, was er wohl denken würde, wenn man ihm morgen einen Ausdruck unseres heutigen Gesprächs präsentierte. Business as usual? Oder: »Oh, da hatte ich wohl ein bisschen viel getrunken …«
    Ich hob den Blick und murmelte im Schutz des Gegröles, das in diesem Moment vom Nachbartisch kam: »Ja, ja, manchmal ist es schwer, sich selbst den Arsch abzuwischen.«
    »Was haben Sie gesagt?« Brot und Aioli kämpften in seinem offenen Mund um die Vormachtstellung. »Wollen Sie ein Dessert? Wie konnte ich nur vergessen, dass Franck A’s
Favorit
eine Vorspeise ist. Ich habe noch immer Hunger.«
    Ich starrte ihn hypnotisiert an und war für einen Moment nicht in der Lage, ihm zu antworten, denn gerade in diesem Moment geschahdas Merkwürdige. Seine Kleider fielen auf wundersame Weise von ihm ab, und ich starrte auf eine Brust älteren Jahrgangs, etwas schlaff und eingefallen, wenn auch noch immer breit, bedeckt von hellbraunen bis hellgrauen Haaren. Durch den Tisch sah ich mit meinen nun gänzlich unwillkommenen Röntgenaugen ein paar leicht gespreizte Schenkel, zwischen denen sich, eingerahmt von ebenfalls hellbraunen bis hellgrauen
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