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Totentöchter - Die dritte Generation

Totentöchter - Die dritte Generation

Titel: Totentöchter - Die dritte Generation
Autoren: cbt Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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könnte, nicht um zu flüchten, sondern nur um frische Luft zu atmen. Das würde mir schon reichen. Ich öffne den Mund, um tief durchzuatmen  – und Deidre steckt mir ein rotes Bonbon in den Mund.
    »Davon bekommst du einen süßen Atem«, sagt sie.
    Das Bonbon löst sich sofort auf und ein Geschmack wie nach Erdbeeren und zu viel Zucker erfüllt meinen Mund. Zuerst hat das etwas Überwältigendes, dann schwächt es sich ab, schmeckt natürlich und meine Beklemmung legt sich sogar ein wenig.

    »So«, sagt Deidre, offenbar zufrieden mit sich selbst. Sie stupst mich an, sodass ich zum ersten Mal in den Spiegel sehe.
    Der Anblick verblüfft mich.
    Meine Augenlider sind rosa geschminkt, aber es ist nicht das aufdringliche Rosa des Badezimmers, sondern eine Farbe, die zwischen den Rot- und Gelbtönen des Sonnenuntergangs liegt. Es glitzert, als wären lauter kleine Sterne darin, und geht in helle Lilatöne und sanftes Weiß über. Meine Lippen sind farblich darauf abgestimmt und meine Haut strahlt.
    Zum ersten Mal sehe ich nicht mehr aus wie ein Kind, sondern wie meine Mutter in ihrem Partykleid an einem dieser Abende, an denen sie, nachdem mein Bruder und ich ins Bett gegangen waren, mit meinem Vater im Wohnzimmer getanzt hat. Später kam sie immer in mein Zimmer und küsste mich, wobei sie glaubte, ich schliefe. Sie war verschwitzt und parfümiert und verrückt vor Liebe zu meinem Vater. »Zehn Finger, zehn Zehen«, hat sie mir ins Ohr geflüstert, »mein kleines Mädchen ist sicher in ihren Träumen.« Dann ging sie wieder, und ich fühlte mich jedes Mal, als wäre ich gerade verzaubert worden.
    Was würde meine Mutter wohl zu diesem Mädchen – dieser Beinahe-Frau – im Spiegel sagen?
    Ich für meinen Teil bin sprachlos. Deidre mit ihrem Händchen für Farben hat mein blaues Auge strahlender gemacht, während mein braunes Auge es mit Roses tiefgründigem Blick aufnehmen kann. Sie hat mich für meine Rolle gut gekleidet und geschminkt: Bald werde ich Hauswalter Lindens tragische Braut sein.
    Ich denke, es spricht für sich, aber im Spiegel hinter
mir sehe ich Deidre die Hände ringen. Sie wartet darauf, zu hören, wie mir ihre Arbeit gefällt.
    »Wunderschön«, ist alles, was ich sagen kann.
    »Mein Vater war Maler«, erzählt sie in einem Anflug von Stolz. »Er hat sein Bestes gegeben, mich zu unterrichten, aber ich weiß nicht, ob ich jemals so gut werde wie er. Alles kann Leinwand sein, hat er gesagt, und du bist jetzt meine Leinwand, glaube ich.«
    Mehr erzählt sie nicht über ihre Eltern und ich frage nicht nach.
    Eine Weile macht sie sich an meinem Haar zu schaffen, das zu Ringeln gelockt ist und mit einem schlichten weißen Stirnband zusammengehalten wird. Das geht so lange, bis die Uhr an Deidres Handgelenk anfängt zu piepen. Dann hilft sie mir in meine unvernünftig hochhackigen Schuhe und trägt die Schleppe meines Kleides auf unserem Weg den Flur hinunter. Wir fahren mit dem Fahrstuhl abwärts und schlängeln uns durch ein Labyrinth aus Gängen. Dieses Haus nimmt überhaupt kein Ende, denke ich schon, da kommen wir an eine große Tür aus Holz. Deidre geht voran, öffnet die Tür einen Spalt und steckt den Kopf hinein. Sie scheint mit jemandem zu sprechen.
    Deidre tritt einen Schritt zurück und ein kleiner Junge späht zu mir heraus. Er ist so groß wie sie – oder fast. Sein Blick wandert an mir entlang, vom Kopf bis zu den Füßen. »Gefällt mir«, sagt er.
    »Danke, Adair. Deine gefällt mir auch«, sagt Deidre. In ihrer kindlichen Stimme schwingt so viel Professionalität mit. »Sind wir dann so weit?«
    »Ich bin fertig. Klär das mit Elle ab.«

    Deidre verschwindet mit ihm hinter der Tür. Wieder wird geredet, und als die Tür sich das nächste Mal öffnet, schaut ein anderes kleines Mädchen zu mir heraus. Ihre Augen sind groß und grün. Aufgeregt klatscht sie in die Hände. »Oh, wunderschön!«, kreischt sie, dann verschwindet sie.
    Als die Tür wieder aufgemacht wird, nimmt Deidre meine Hand und führt mich in einen Raum, der eigentlich nur ein Nähzimmer sein kann. Er ist klein und fensterlos, vollgestopft mit Stoffballen und Nähmaschinen, Bänder hängen von den Regalen und liegen überall auf den Tischen verstreut.
    »Die anderen Bräute sind auch fertig«, sagt Deidre. Sie sieht sich um, vergewissert sich, dass niemand sie hören kann, und flüstert mir dann zu: »Aber ich finde, du bist die Hübscheste.«
    In den Ecken des Zimmers stehen die beiden Bräute einander
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