Totentöchter - Die dritte Generation
aufregend findet.
Der Teppich führt durch eine offene Tür ins Freie. Hier ist das, was Deidre als Rosengarten bezeichnet hat, klar zu erkennen an den Rosenbüschen, die um uns herum hohe Wände bilden. Sie sind wie eine Verlängerung des Flurs und trotz des offenen Himmels über uns fühle ich mich nicht weniger eingesperrt als drinnen.
Der Abendhimmel steht voller Sterne und meine Gedanken schweifen ab – zu Hause würde mir nicht mal im Traum einfallen, um diese Zeit noch draußen zu sein. Die Tür wäre verriegelt und die Lärmfalle in der Küche ausgelegt. Rowan und ich würden in Ruhe zu Abend essen und dazu Tee trinken, dann würden wir noch die Abendnachrichten schauen, uns über Jobangebote informieren und über den Zustand unserer Welt, immer verzweifelt hoffend, dass es eines Tages eine Wendung zum Guten geben könnte.
Seit vor vier Jahren das alte Labor explodiert ist, hoffe ich, dass es von einem neuen Labor ersetzt wird, damit
Arbeitsplätze in der Forschung geschaffen werden und jemand ein Gegenmittel finden kann. Aber Waisen haben sich in den Ruinen des alten Labors häuslich niedergelassen. Die Leute geben auf, ergeben sich ihrem Schicksal. Und die Nachrichten bringen nichts als Stellenangebote und Filmaufnahmen von Festen, die von der wohlhabenden Schicht veranstaltet werden – von Hauswaltern und ihren traurigen Bräuten. So was soll uns Mut machen, nehme ich an – die Illusion vermitteln, dass die Welt nicht am Ende ist.
Die nahende Welle von Heimweh kann mich nicht mehr überspülen, denn da werde ich bereits am Ende des Rosenbuschflurs auf eine Lichtung geschoben. Dort muss ich mich mit den anderen Bräuten im Halbkreis aufstellen.
Diese Lichtung hat sich plötzlich vor uns aufgetan und das ist eine Erleichterung. Der Garten wirkt mit einem Mal riesengroß, wie eine Stadt, in der Glühwürmchen wimmeln. Überall sind kleine, flache Kerzen, die zu schweben scheinen – ich glaube, Deidre nannte sie Teelichter. Springbrunnen plätschern in winzige Teiche, und jetzt kann ich sehen, dass die Musik irgendwie von einem selbst spielenden Keyboard verstärkt wird. Die Tasten leuchten auf, wenn die Töne erklingen, und ein volles Orchesters mit Streichern und Blechbläsern entfaltet sich. Die Melodie kenne ich, meine Mutter hat sie immer gesummt. »Der Hochzeitsmarsch«, der zu Zeiten ihrer eigenen Mutter auf allen Hochzeiten gespielt wurde.
Mit den beiden anderen Bräuten werde ich zu einem Pavillon im Zentrum der Lichtung geführt, wo der rote Teppichstreifen zu einem großen Kreis wird. Neben uns
steht ein Mann in weißen Gewändern und die Aufwärter nehmen uns gegenüber ihre Plätze ein, die Hände wie zum Gebet gefaltet. Die jüngste Braut kichert, als vor ihrer Nase ein Glühwürmchen im Kreis herumtaumelt und wieder verschwindet. Die älteste Braut starrt ins Leere, mit Augen so grau wie der Abendhimmel. Ich tue einfach, was ich kann, um nicht aufzufallen und mich anzupassen, doch vermutlich ist das aussichtslos, wenn der Hauswalter Gefallen an meinen Augen gefunden hat.
Ich weiß nicht viel über traditionelle Hochzeiten, ich war nie auf einer. Meine Eltern haben im Rathaus geheiratet, wie die meisten Paare ihrer Generation. Da die Menschen jetzt so früh sterben, heiratet kaum noch jemand. Aber ich glaube, das hier ist mehr oder weniger so, wie es früher einmal war: Die wartende Braut, die Musik und der Bräutigam, der sich in einem schwarzen Frack nähert. Linden, der Hauswalter, mein zukünftiger Ehemann, wird uns am Arm eines Mannes der ersten Generation zugeführt. Beide Männer sind groß und blass. Vor dem Pavillon trennen sie sich und Linden steigt die drei Stufen zu seinen Bräuten hinauf. Er stellt sich in die Mitte des Kreises mit dem Gesicht zu uns. Der kleine Rotschopf zwinkert ihm zu und er lächelt sie bewundernd an, so wie ein Vater seine jugendliche Tochter anlächeln sollte. Aber sie ist nicht seine Tochter. Er hat vor, sich seine Kinder von ihr austragen zu lassen.
Mir wird schlecht. Es wäre ganz schön trotzig, ihm einfach auf seine polierten Schuhe zu kotzen. Allerdings habe ich bisher keinen Bissen von dem Essen zu mir genommen, das Gabriel mir seit meinem ersten Tag hier
gebracht hat – und Kotzen würde mir keine Pluspunkte bringen. Meine beste Chance zur Flucht ist, Lindens Vertrauen zu gewinnen. Je eher mir das gelingt, desto besser.
Der Mann in den weißen Gewändern beginnt zu sprechen und die Musik verklingt.
»Wir sind heute hier versammelt,
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