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Totensonntag: Kriminalroman (German Edition)

Totensonntag: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Totensonntag: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Andreas Föhr
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noch auf der Bank vor dem Haus saß. »Erschieß sie. Sie ist ein flüchtiger Häftling.«
    Erich Lukas schlug das Herz bis zum Hals, und er machte sich fast in die Hose.
    »He, was soll denn das?«, sagte Kurt Lohmeier zu Kieling.
    »Der macht doch nichts.« Kieling packte Kurt Lohmeier an der Uniformjacke und setzte sich in Bewegung. »Jetzt komm endlich!«
    Unmittelbar darauf zerriss ein Schuss die Frühlingsstille. Die SS-Männer drehten sich verwundert um. Der fünfzehnjährige Junge mit der Volkssturmbinde stand zitternd auf der Wiese, das Gewehr in beiden Händen, und starrte sie mit großen Augen an. Am Haus saß Frieda Jonas immer noch auf der Bank. Sie sah nahezu aus wie vorher, mit dem Unterschied, dass ihr Kopf ein wenig zur Seite geneigt war und unter ihrer Wollmütze ein dunkelrotes Rinnsal hervorkam und ihr die Stirn hinablief.

67
    Herbst 1992
    L ukas saß am Küchentisch, die Bierflasche vor sich, und starrte auf das Tischtuch. Wallner setzte sich dazu.
    »Sie waren fünfzehn und von der Naziideologie indoktriniert. Es war nicht Ihre Schuld.«
    »Es war letzten Endes … Feigheit. Die Angst, nicht gemocht zu werden.« Lukas schob seine Bierflasche von sich. »Als die beiden weggingen, da wusste ich: Es bleiben dir nur ein paar Sekunden, um alles wiedergutzumachen.«
    »Haben Sie damals nicht an Ihren Vater gedacht? Und dass Leute wie Ihr Onkel ihn eingesperrt und gequält haben?«
    »Ich habe meinen Vater damals gehasst. Dafür, dass er mich zum Aussätzigen gemacht hat. Mein Vater war an allem schuld, was schlecht war in meinem Leben. Mein Onkel hingegen – der war bei denen und in meinen Augen ganz weit oben. Der hatte erreicht, dass ich zum Jungvolk durfte. Onkel Kurt war alles in meinem jämmerlichen Leben.«
    »Verfolgt Sie die tote Frau?«
    »Jede Nacht.« Er dachte kurz nach. »Es hatte schon mal nachgelassen. Aber dann stehe ich plötzlich an ihrem Sarg unter dieser Kapelle. Sie können sich nicht vorstellen, wie ich mich gefühlt habe.«
    Wallner ging zum Fenster und blickte in die Novembernacht hinaus. »Wenn Sie dafür sühnen, wird es Ihnen vermutlich helfen. Ich bin kein Psychologe. Aber das erzählen sie auf der Polizeischule.«
    »Möglich.«
    »Es wird ohnehin nicht viel passieren. Man wird Sie nach Jugendstrafrecht verurteilen.«
    »Ich habe keine Angst vor der Strafe.«
    »Sondern?«
    Lukas erhob sich und ging zu Wallner. Seine Schritte waren müde. Er stand an der Schwelle zum Greis. »Sie wissen, worum es mir geht. Es sind zwei Dinge. Erstens: Ich will nicht, dass Claudia davon erfährt.«
    »Dann haben Sie seit damals keine großen Fortschritte gemacht.«
    Lukas war irritiert.
    »Offenbar treibt Sie immer noch die Angst, nicht gemocht zu werden.«
    Lukas setzte sich wieder an den Tisch. Noch müder, wie es Wallner schien, als vorher. »Da mögen Sie recht haben. Aber es ist nicht mein Hauptgrund. Der Hauptgrund ist Kieling.«
    »Sie hassen ihn, weil er Sie dazu gebracht hat zu schießen?«
    »Mir geht es um Gerechtigkeit. Mein Onkel hat mir viel von Kieling erzählt. Sie waren während des Krieges lange Zeit zusammen.«
    »Er hat vermutlich getan, was alle SS-Leute getan haben.«
    »Wie? Wenn es alle getan haben, kann’s nicht so schlimm gewesen sein? Oder was meinen Sie?«
    »War eine dumme Bemerkung. Erzählen Sie weiter.«
    »Kieling hat viele Häftlinge umgebracht und gequält. Nach Angaben meines Onkels hat er seine Opfer immer irgendwohin geführt, wo man ihn nicht sehen konnte. Diese Diskretion haben die wenigsten gepflegt.«
    »Vielleicht war er einfach weitsichtiger als seine Kameraden.«
    »Ich glaube nicht. Von denen hat keiner daran geglaubt, dass er je zur Verantwortung gezogen wird. Vielleicht in der Endphase des Krieges, als langsam klarwurde, dass das nicht gutgeht. Warum auch immer: Kieling hat vermutlich nie jemand bei einem seiner Morde gesehen.«
    »Woher wusste Ihr Onkel dann davon?«
    »Kieling hat damit geprahlt. Außerdem hat man hinterher natürlich die Leichen gefunden.«
    »Gut. Was wollen Sie mir damit sagen?«
    »Ich will Ihnen damit sagen …« Lukas überlegte seine Worte sehr genau. »Ich will Ihnen sagen, dass dieser Mord, den ich begangen habe, noch einen Sinn haben kann – nämlich einen anderen Mörder für seine Verbrechen zu bestrafen. Sie werden jetzt sagen: Da kommt halt einer ungeschoren davon. Aber …«
    »Ist schon klar«, fiel ihm Wallner ins Wort. »Was Kieling getan hat, ist mit Ihrer Tat in keiner Weise zu
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