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Totensonntag: Kriminalroman (German Edition)

Totensonntag: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Totensonntag: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Andreas Föhr
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verabreichte ihm eine Ohrfeige, dass der Junge zu Boden ging. Der andere SS-Mann zerrte seinen Kameraden weg, versuchte, ihn zu beschwichtigen, und drängte zum Aufbruch, sonst laufe man den amerikanischen Truppen in die Arme. Der Wütende ließ sich nur mit Mühe beruhigen, und erst nachdem er dem Jungen noch einmal ins Gesicht geschlagen hatte, war er bereit zu gehen. Der Junge vom Volkssturm stand eine Weile regungslos mit offenem Mund in der Wiese und glotzte zum Haus. Dann ließ er sein Gewehr fallen und rannte weg.
    Nissl rief ihm hinterher. »Hallo! Warte! Ihr müsst mich rausholen.« Doch der Junge schien Nissl nicht zu hören und rannte weiter.
    »Sag den anderen Bescheid!«, schrie Nissl. »Die sollen mich rausholen, wenn der Krieg vorbei ist.«
    Nissl war wieder allein. Er umklammerte die Gitterstäbe des Fensters und sah sehnsüchtig zu dem Weg, der aus dem Wald kam. Da musste irgendwann jemand kommen. So lange konnte der Krieg doch nicht mehr dauern. Außerdem hatte er Hunger. Alle waren weg, dachte Nissl. Was wohl mit der Frau war? Hatten sie sie gefunden? Er meinte, ab und zu eine weibliche Stimme gehört zu haben. Vorhin. Neben dem Kellerfenster. Möglicherweise von der Bank vor dem Haus. Aber die konnte er nicht sehen, selbst wenn er den Kopf fest gegen die Gitterstäbe presste.
    »Hallo!«, rief Nissl aus dem Fenster. Dann fiel ihm wieder ein, wie sie hieß. »Frieda?!« Nissl schämte sich, dass er die Frau verraten hatte.
    Endlich rührte sich etwas auf dem Weg, der aus dem Wald kam. Ein Motorrad.
    Gott sei Dank!, dachte Nissl. Sie lassen mich raus. Es ist Frieden, und ich kann nach Hause.
    Der Fahrer war ein etwa sechzigjähriger Mann mit verzweifeltem Gesicht. Er stellte das Motorrad ein paar Meter von Nissl entfernt ab, sprang hastig vom Sattel und lief zum Haus. Der Mann schien so in Eile zu sein, dass Nissl nicht wagte, ihn anzusprechen. Einige Sekunden vergingen, dann hörte Nissl lautes Schluchzen. Der Mann weinte. Er weinte lange. Dann tauchte er wieder vor dem Kellerfenster auf. Er hatte etwas auf den Armen, das Nissl nicht sofort erkennen konnte. Erst als der Mann auf die Knie ging, sah Nissl, dass es die Frau war. Der Mann legte sie auf die Wiese und weinte noch lange Zeit weiter, dann hob er die Frau auf und setzte sie in den Beiwagen seines Motorrads. Nissl überlegte, ob er den Mann bitten sollte, ihn rauszulassen. Aber dann hätte der womöglich gefragt, wie die Frau gestorben war, und dann wäre herausgekommen, dass Nissl sie verraten hatte. Er schlich in seine Ecke neben dem verrosteten Regal, und das Motorrad fuhr weg. Nissl wartete wieder auf seine Kameraden. Aber niemand kam. Achtzehn Tage lang.

    Ägidius Haltmayer verfiel an diesem Tag für den Rest seines Lebens in Trauer und Schwermut. Sie hatten ihn nicht fortgelassen, als die SS-Leute zum Sakerer Gütl aufbrachen, hatten den alten Lehrer und einen sechzehnjährigen Jungen dagelassen, die mit Sturmgewehren vor ihm standen. Der Lehrer hatte Haltmayer angefleht, keinen Unsinn zu machen, es sei doch alles bald vorbei. Da hatte ihm Haltmayer das Gewehr aus der Hand geschlagen, ihn aus dem Weg geschoben und wollte Kieling hinterher, um ihn aufzuhalten. Aber der junge Bursche hatte geschossen und nachgeladen und auf ihn angehalten, und in seinen dummen Augen hatte Haltmayer gesehen, dass er noch einmal schießen würde.
    Eine Stunde später rollten die Panzer in Richtung Miesbach, an den Straßen jubelten die Kinder und balgten sich um Kaugummis, die von schwarzen Soldaten unters Volk geworfen wurden. Der Junge warf sein Gewehr fort und rannte, dass er auch was von den Süßigkeiten bekam. Ägidius Haltmayer eilte mit pochendem Herzen zu seinem Motorrad. Aber es war zu spät.

    Ägidius bewahrte Friedas Leichnam die ersten Tage im Keller seines Bauernhofs auf und traf seine Vorbereitungen für die Beerdigung. Auf dem Friedhof würde er sie keinesfalls beisetzen lassen. Das ganze Dorf hatte sie verraten. Da war sich Ägidius sicher. Sollten die alle auf den Friedhof kommen und hinterher zum Leichenschmaus und sich das Maul zerreißen über die Schlampe aus Düsseldorf? Nein. Das Geschmeiß wollte er nicht dabeihaben. Und auch den Pfarrer nicht. Zwölf Jahre hatte Ägidius aufrecht zu seinem Gott gestanden und viel Demütigung erlitten. Und für was? Dass der Herr ihm zum Dank dafür das Herz herausriss. Mit diesem Gott war Ägidius fertig. Er würde Frieda ganz allein begraben, an einem Ort, den nur er kannte.
    Ägidius mietete
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