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Totensonntag: Kriminalroman (German Edition)

Totensonntag: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Totensonntag: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Andreas Föhr
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    1. Mai 1945
    K einer hatte etwas Ähnliches je gehört. Sie saßen in der Stube beim Schein einer Glühbirne und lauschten dem Rumpeln, das von draußen hereindrang. Der Russe, der seit kurzem mit am Tisch sitzen durfte, hatte es zuerst gehört, hatte gemeint, es habe Ähnlichkeit mit dem Geräusch herannahender Panzer. Aber das konnte nicht sein. Die Amerikaner waren noch hinter Tölz. So schnell ging das nicht. Das Geräusch wurde lauter, kam näher. Schließlich stand der Bauer auf, verfolgt von ängstlichen Blicken, ging vor die Tür und schaltete die Leuchte über der Tür an. Nichts war zu sehen. Nur Schneegestöber. Es schneite so gottserbärmlich, wie es noch nie geschneit hatte an einem ersten Mai. Das Rumpeln wurde lauter, dann wieder leiser, je nachdem, wie sich der Wind drehte. Kam er aus Westen, hörte man es ganz deutlich. War das der Untergang, den sie alle erwarteten?
    Eine Gestalt im Feldmantel kam hinter der Scheune hervor und ging auf das Haupthaus zu. Es war ein SS-Mann. Den Dienstgrad konnte der Bauer nicht erkennen. Auf den Schulterstücken und Kragenspiegeln hatte sich Schnee angesammelt und machte eine genauere Identifizierung schwer. Der Mann kam wortlos näher und stellte sich vor den Hofbesitzer. Die Männer waren etwa gleich groß. Dennoch kam sich der Bauer sehr viel kleiner vor. Und das lag nicht nur an den Stiefelabsätzen des anderen. Der SS-Hauptscharführer (jetzt, aus der Nähe, konnte der Bauer sehen, dass die Schulterstücke goldumrandet waren) deutete auf den Heustadel. »Den brauchen wir«, sagte er. »Und Essen.«
    Der Bauer nickte dienstfertig. »Für wie viele?«
    »Achtzig.« Der Bauer wurde bleich. »So viel essen die nicht«, sagte der SS-Mann leise.
    Die ganze Familie stand in der Tür. Nur der Russe hielt sich im Hintergrund, er ging uniformierten Deutschen aus dem Weg. Hinter der Scheune war ein weiterer SS-Mann aufgetaucht. Er schwenkte eine Taschenlampe und rief einen Befehl in die Nacht. Das Rumpeln, das kurzzeitig ausgesetzt hatte, begann von neuem. Dann kamen die Ersten um die Scheune. Die meisten waren bis auf die Knochen abgemagert und steckten in gestreiften Häftlingsanzügen. Die Augen lagen tief in den Höhlen. Ob es Männer oder Frauen waren, konnte man in diesem Zustand schwer erkennen. An den Füßen hatten sie Holzpantinen.

    Schnee wehte Frieda ins Gesicht, während sie versuchte, sich aufrecht zu halten. Sie standen vor der Scheune. Abendappell. Der Wind biss durch die dünne Jacke, schlimmer noch als beim Marschieren. Wenn man sich bewegte, war es nicht ganz so kalt.
    Viel war der SS nicht geblieben. Ihre Gewehre und ihre scharfen Hunde. Und der Appell. Der Westwind trieb hin und wieder den Donner eines amerikanischen Geschützes von weit herüber. Dann schoss ihr Hoffnung ins Herz, die paar Tage zu überleben, bis sie da waren. Es konnte nicht sein, dass sie nach sechs Jahren jetzt schlappmachte. Zwanzig Kilometer vor den Amerikanern, fünf Kilometer bis nach Hause.
    Hauptscharführer Kieling betrachtete die achtzig Gestalten, die er aus Gründen, die nicht einmal er selbst kannte, immer noch bewachte und durch das bayerische Voralpenland trieb. Sie stammten aus Nebenlagern des KZ Dachau. Kieling hatte keine Eile. Er war keiner von den Lauten. Keiner, der die Häftlinge zusammenbrüllte und vor versammelter Mannschaft verprügelte oder erschoss. Er sagte wenig. Und was er sagte, war leise. Er sagte »mitkommen« so, dass man es kaum verstehen konnte. Und dann ging er mit einem Häftling hinters Haus oder irgendwohin, wo man ihn nicht sehen konnte. Ein Schuss – und Kieling kam zurück. Allein.
    Frieda wusste nicht, ob Kieling sie erkannt hatte. Selbst wenn, hätte er vermutlich nichts gesagt. Sie waren sich sechs Jahre nicht begegnet, und so, wie sie aussah, hätte ihre Mutter sie nicht erkannt. Vor vier Tagen war er plötzlich aufgetaucht, beim Abmarsch aus Allach. Sie waren einige Tausend gewesen und Hunderte von Bewachern. Er war immer in ihrer Nähe geblieben. Das mochte Zufall sein oder weil er für ihren Abschnitt zuständig war. Als sie die russischen Häftlinge zurückgelassen hatten, war er immer noch dageblieben. Und als die anderen beschlossen, vor Waakirchen im Wald zu übernachten, hatte er sich mit seinem Vorgesetzten gestritten und war mit achtzig Frauen weitermarschiert. Sie sollten nach Tirol, hatte einer gesagt. Wozu? Keiner wusste es. Es war auch nicht klar, ob die SS es wusste. Niemand schien in diesen Tagen irgendetwas zu
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