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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich
Autoren: Tana French
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ersten Mal im Leben stolperte ich dauernd über meine eigenen Füße, lief gegen Türrahmen, stieß mir den Kopf an Schränken. Und ich hörte auf zu träumen. Früher hatte ich immer in großartigen, wilden Bilderfluten geträumt, Feuersäulen, die über dunkle Berge hinwegwirbelten, Kletterpflanzen, die massiven Backstein durchbrachen, Hirsche, die von Lichtbändern umhüllt in langen Sätzen den Strand von Sandymount entlangliefen; jetzt fiel ich in einen dumpfen, schwarzen Schlaf, der mich wie ein Hammer traf, kaum dass mein Kopf das Kissen berührte. Sam – mein Freund, obwohl mich dieser Gedanke mitunter noch immer verblüffte – sagte, ich solle mich gedulden, das würde sich irgendwann geben. Als ich erwiderte, ich hätte da meine Zweifel, nickte er sanft und sagte, auch das würde sich geben. Ab und zu konnte Sam mir ganz schön auf den Wecker gehen.
    Ich zog die herkömmliche Cop-Lösung in Erwägung – Alkohol –, aber ich fürchtete, dann würde ich irgendwann um drei Uhr morgens die falschen Leute anrufen, um ihnen mein Herz auszuschütten, und außerdem stellte ich fest, dass Schießübungen mich fast ebenso wirkungsvoll betäubten, und zwar ohne irgendwelche unschönen Nebenwirkungen. Angesichts meiner sonstigen Reaktion auf laute Geräusche war das eigentlich völlig unlogisch, aber das kümmerte mich nicht. Nach den ersten paar Schüssen brannte bei mir im Hinterkopf eine Sicherung durch, und der Rest der Welt rückte irgendwo in nebulöse Ferne, meine Hände schlossen sich bombenfest um die Pistole, und dann waren da nur noch ich und die Pappfigur, der strenge vertraute Geruch nach Schießpulver in der Luft und mein Rücken, der sich gegen den Rückstoß stemmte. Hinterher war ich ruhig und benommen, wie unter Valium. Bis die Wirkung nachließ, hatte ich wieder einen Tag auf der Arbeit überstanden und konnte mir den Kopf an spitzen Ecken innerhalb meiner geschützten vier Wände stoßen. Irgendwann war ich so gut geworden, dass ich von zehn Schüssen neun Kopfschüsse aus vierzig Metern Entfernung schaffte, und der verschrumpelte kleine Mann, der den Schießstand leitete, hatte angefangen, mich mit dem Blick eines Pferdetrainers zu mustern und das Thema Polizeimeisterschaften anzusprechen.
    An dem Morgen hatte ich gegen sieben mit dem Schießen aufgehört. Ich war in der Umkleide dabei, meine Pistole zu reinigen, und versuchte, mit zwei Kollegen von der Sitte Smalltalk zu machen, ohne bei ihnen den Eindruck zu erwecken, ich würde mit ihnen frühstücken wollen, als mein Handy klingelte.
    »Ach, du Schande«, sagte einer der beiden. »Du bist doch beim DHG, nicht? Wer hat denn die Energie, seine Frau schon so früh am Morgen zu verdreschen?«
    »Für die wirklich wichtigen Dinge im Leben ist immer Zeit«, sagte ich und holte meinen Spindschlüssel aus der Tasche.
    »Vielleicht ist es das Spezialeinsatzkommando«, sagte der Jüngere der beiden und grinste mich an. »Die brauchen Scharfschützen.« Er war groß und rothaarig, und er fand mich süß. Er präsentierte seine Muskeln möglichst vorteilhaft, und ich hatte ihn bei einem prüfenden Blick auf meinen Ringfinger ertappt.
    »Die haben wahrscheinlich gehört, dass wir gerade keine Zeit haben«, sagte sein Kumpel.
    Ich fischte das klingelnde Telefon aus meinem Spind. Auf dem Display stand Sam O’Neill , und das Symbol für entgangene Anrufe blinkte mich aus einer Ecke an.
    »Hi«, sagte ich. »Was gibt’s?«
    »Cassie«, sagte Sam. Er klang schrecklich: atemlos und krank, als hätte ihn jemand zusammengeschlagen. »Alles in Ordnung mit dir?«
    Ich drehte den Jungs von der Sitte den Rücken zu und verzog mich in eine Ecke. »Mir geht’s gut. Wieso? Was ist los?«
    »Menschenskind«, sagte Sam. Er gab einen harten, kleinen Laut von sich, als wäre seine Kehle zu eng. »Ich hab dich viermal angerufen. Ich wollte schon jemanden zu dir in die Wohnung schicken. Wieso bist du nicht an dein scheiß Handy gegangen?«
    Das sah Sam gar nicht ähnlich. Er ist der sanftmütigste Mann, der mir je begegnet ist. »Ich bin am Schießstand«, sagte ich. »Es war in meinem Spind. Was ist denn passiert?«
    »Tut mir leid. Ich wollte nicht … tut mir leid.« Er machte wieder dieses schroffe kleine Geräusch. »Ich bin rausgerufen worden. Zu einem Fall.«
    Mein Herz machte einen gewaltigen Satz gegen den Brustkorb. Sam ist im Morddezernat. Ich wusste, dass ich mich wahrscheinlich besser hinsetzen sollte, aber ich konnte die Knie nicht beugen. Stattdessen
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