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Der Traum des Satyrs

Der Traum des Satyrs

Titel: Der Traum des Satyrs
Autoren: Elizabeth Amber
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    Dominic
    1
    Tempel des Bacchus
    Anderwelt im Jahre 1837
    Ihr Name ist Emma.«
    Die Stimme des Bewahrers hallte von den uralten Steinwänden wider, was seinen Worten Autorität verlieh, als er Dominics Aufmerksamkeit auf die große Spiegelscheibe lenkte, die mitten auf dem blutbefleckten Boden des Tempels stand.
    Die Oberfläche der Scheibe zeigte, wie ein lebendes Porträt, das Bild einer Frau, die irgendwo in einer benachbarten Welt lebte. Ihr Gesichtsausdruck war heiter und arglos, denn sie wusste nicht, dass sie beobachtet wurde.
    Der Spiegel war etwa einen Meter achtzig groß, aus poliertem Obsidian und so schwarz und undurchdringlich wie die Nacht. Neun weitere konkave Scheiben von geringerem Durchmesser waren kreisförmig um ihn herum angeordnet. Jede von ihnen war aus einem anderen exotischen Stein gefertigt, der jeweils eine Phase des Mondzyklus repräsentieren sollte. Alle Scheiben waren so angeordnet, dass sie das Mondlicht, das durch eine Öffnung im Dach hereinfiel, einfingen und auf den großen Spiegel in der Mitte lenkten, in dem gerade die Frau zu sehen war.
    »Ihr erwartet von mir, dass ich sie vergewaltige«, stellte Dominic mit ausdrucksloser Stimme fest.
    Die Frau bewegte ihre Hand und blätterte eine Seite in dem Buch um, das sie gerade las.
    »Wir erwarten von Euch, dass Ihr tut, was notwendig ist. So wie immer«, antwortete der Bewahrer und sprach damit sowohl für sich selbst als auch für die beiden schweigenden Akolythen an seiner Seite.
    Auf den ersten Blick war die Frau von einfacher Erscheinung, unauffällig in jeder Hinsicht. Dominic schätzte sie auf sein Alter, also fünfundzwanzig Jahre, vielleicht auch etwas mehr. Von einer gelegentlichen Bewegung ihrer Hand abgesehen, blieb sie vollkommen regungslos. Ihr Kopf war konzentriert über ein Buch mit dem Titel
The Fruits of Philosophy
gebeugt, das vor ihr auf dem Tisch lag.
    Sie trug eine Brille und hielt den Kopf halb von Dominic abgewandt, so dass die feine Linie ihrer Wange vom flackernden Kerzenlicht erhellt wurde. Ihr hellbraunes Haar ringelte sich in dichten Locken um ihren verletzlichen Nacken.
    Das Gewand, das sie trug, war steif und übermäßig lang, so dass es die Formen ihres Körpers fast vollständig verhüllte. Er hatte schon davon gehört, dass die Frauen der Erdenwelt sich in Unmengen von Stoff hüllten, undurchdringlich für die Augen eines Mannes, doch bisher hatte er immer gedacht, es handelte sich dabei nur um ein Gerücht. Sie hatte volle Brüste und einen wohlgeformten Körper. Warum versteckte sie das alles?
    »Ihr werdet Euch in dieser Angelegenheit unserem Willen beugen?«, wollte der Bewahrer wissen.
    Dominic brummte eine widerwillige Zustimmung. Sein harter Blick aus silbernen Augen fiel wieder auf die Frau. Er hatte in seinem Leben schon Schlimmeres tun müssen. Und er hatte kaum eine andere Wahl.
    Aus dem Flur hinter ihnen drang das Geräusch der fegenden Besen der Geweihten. Ernst kehrten sie die geheiligten Überreste dessen, was einmal eine riesige Statue des Gottes Bacchus gewesen war, in Gefäße, die man später in Reliquienschreine bringen würde.
    Wut stieg in Dominic auf. Dieser geheiligte Ort – sein Zuhause – war brutal angegriffen worden. Und man stelle sich vor, dass er erst wenige Stunden zuvor dort draußen gewesen war, um genau die Kreaturen zu bekämpfen, die sich seine Abwesenheit hier zunutze gemacht hatten, um sein Heim zu entweihen!
    Er lebte hier, überwiegend allein, schlief in einer Nische und genoss auch sonst nur wenige Bequemlichkeiten. Wie ein Raubvogel kam er bei Nacht über die Feinde seines Volkes, und bei Tag kehrte er zurück, um in der Deckung, die der Tempel bot, zu schlafen. Doch dieser letzte Angriff hatte seinen gewohnten Tagesablauf verändert.
    »Dieser Angriff letzte Nacht hat sieben Opfer gefordert«, erklärte der Bewahrer ihm ungefragt. »Und das Amulett, das sich in der Statue befand, ist verschwunden. Wir können nur den Göttern dafür danken, dass unsere Feinde so sehr damit beschäftigt waren, es zu rauben, dass sie nicht bis zu diesen Spiegeln hier gekommen sind.«
    »Unsere ›Feinde‹!«, spottete Dominic und warf ihm einen zynischen Blick zu. Der Gestank nach Dämonen haftete überall, doch der Bewahrer weigerte sich beharrlich, sie direkt beim Namen zu nennen, als ob er sie damit irgendwie in Fleisch und Blut heraufbeschworen hätte.
    »Sie waren nicht ›zu beschäftigt‹«, erklärte er dem Älteren. »Sie kamen in ganz klarer Absicht
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