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MK Boeckelberg

MK Boeckelberg

Titel: MK Boeckelberg
Autoren: Arnold Kuesters
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I.
    Ziellos wehte an diesem Morgen die kalte Luft über die leeren Ränge. Kurze Böen fegten durch den offenen Spielertunnel. Hinter der überdachten Tribüne tänzelten winzige Turbulenzen zwischen den Ritzen schief hängender Rolltore. Durch die ausgeräumten, verwahrlosten Logen und Sprecherplätze trudelten spielerisch kleine Papierfetzen und altes Laub. Über die weiten gepflasterten Flächen für die Übertragungswagen der Fernsehsender wirbelte Sand. Irgendwo schlug eine Schnur rhythmisch an einen vergessenen Fahnenmast. Auf dem Spielfeld bogen sich die wild wuchernden Grashalme unter den stürmisch dribbelnden Winden. Im Torraum, am Fuß der stummen Nordkurve, war für kurze Zeit Ruhe.
    Unter der bleichen Vorfrühlingssonne war es fast still in dem alten Stadion an der Bökelstraße, wären da nicht die träge quietschenden Ketten des schweren sandfarbenen Baggers. Das kräftige Wummern seines Dieselmotors brach sich unablässig an den nackten Betonstufen der Zuschauerblöcke. Es klang wie das vieltausendfache kehlige, langsam bis zur kollektiven Enttäuschung oder Begeisterung anschwellende Brausen längst vergessener Spieltage.
    Tor für die Borussia! Heinzi Plaetzken hatte die markante Stimme von Sprecher-Legende Rolf Göttel noch im Ohr. Heinzi Plaetzken hatte in seiner Jugend zwar nie Fußball gespielt, aber er war oft im Stadion an der Bökelstraße gewesen. Immer, wenn er Geld für eine Karte übrig gehabt hatte. Er hatte de Kuli geliebt. Ausgerechnet er hatte nun den schmerzlichen Auftrag und musste das Stadion, sein Stadion, platt machen. In den ersten Tagen des Abrisses hatte er immer wieder mal auf seinem alten Platz auf dem Osthang gestanden und dann für Minuten auf das Spielfeld gestarrt. Mehr als einmal hatte er dabei den Impuls gespürt, mit dem Rasenmäher Ordnung zu schaffen und die Spielfläche wieder herzurichten.
    Als er schließlich merkte, dass ihn seine Erinnerungsversuche zu sehr schmerzten, hatte er seine Pausen lieber im staubigen Baucontainer verbracht. Trotz seiner traurigen Arbeit war es für ihn immer noch etwas Besonderes, das Gelände des Vereins betreten zu können.
    Davon hatte er vor dem Umzug von Verein und Mannschaft ins neue Stadion geträumt: Einmal neben den Spielern im heiligen Innenhof zu stehen, den Trainer und die Fernsehteams hautnah erleben! Das war ihm damals als unerreichbar erschienen. Stattdessen hatte er nun seinen Platz im Baucontainer und konnte durch die Fenster die auf den Asphalt gemalten Markierungen für die Einsatzfahrzeuge der Polizei und Rettungswagen sehen. Und da, wo jetzt sein Container stand, hatte früher der Manager geparkt.
    Heinzi Plaetzken kam aus Wegberg und hieß wirklich so. Warum seine Eltern ihn Heinzi getauft hatten, wusste er nicht. Heinzi Plaetzken war Fahrer. Baggerfahrer. Und das einzige, was ihm in seinem Leben bisher etwas bedeutet hatte, war der VFL. Auf den würde er nie verzichten. Ebenso wenig wie auf seine Bild, die er jeden Morgen vor der Arbeit am Kiosk kaufte. Natürlich vor allem wegen des Sportteils. Und ein bisschen wegen der Mädchen auf Seite Eins.
    Heinzi Plaetzken hatte beim Baggern schon vieles gefunden: Mehrere römische Brandgräber, wie ihm die studierten Männer vom Landschaftsverband erklärt hatten, rostige Fahrräder oder Fünf-Zentner-Bomben. Gottseidank Blindgänger. Aber noch keine Leichen. Noch nicht.
    Heinzi Plaetzken beugte sich gelassen aus dem schmalen Führerhäuschen des Baggers. Er hatte seinen Kollegen Mehmet Binici entdeckt, der wild winkend auf ihn zukam. Was Mehmet schrie, ging im Lärm des Motors allerdings unter.
    »Was ist los? Ist schon Frühstückszeit?« Plaetzken feixte.
    Mehmet Binici zog seinen Bauhelm ab und schob mit einer Hand die Kapuze seines Overalls zurück. »Heinzi, da liegt ein Toter. Lauter Knochen. Komm schnell.«
    Atemlos zeigte er in Richtung des alten Ehrenmals, das weit hinter der Haupttribüne nahe am Zaun stand und in Form einer stilisierten Raute an die Vereinsmitglieder erinnerte, die in den beiden Weltkriegen gefallen waren. Mehmet Binici sollte das Fundament des Mahnmals freilegen, damit es vorsichtig abgebaut und bis zur Wiederverwendung zwischengelagert werden konnte.
    »Komm gucken, da liegen Knochen!« Er war ganz weiß im Gesicht.
    Plaetzken winkte ab. »Spinn nicht rum, Mehmet. Knochen! Da liegen keine Toten. Das Denkmal soll nur an die Toten erinnern. Mach weiter und lass mich in Ruhe. Wir haben heute noch eine Menge zu tun. In drei Wochen kommt der
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