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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich
Autoren: Tana French
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und wieder zu den Notizen und dem Kaffee mit einem Schuss Whiskey wird, wenn sie ausgedient hat. Ich glaube, ich habe immer gewusst, dass Lexie wiederkommen und nach mir suchen würde, eines Tages.
    Sie brauchte vier Jahre. Sie suchte sich den Augenblick mit Bedacht aus. Sie trat an einem frühen Morgen im April wieder in mein Leben, einige Monate nach meinem Abschied vom Morddezernat, als ich gerade auf dem Schießstand war.
    Unser Schießstand liegt unterirdisch mitten in der Stadt, tief unter dem Dubliner Straßenverkehr und einer dicken Schicht Smog. Ich hätte nicht dort sein müssen – ich war immer eine gute Schützin, und bis zu meinem nächsten Befähigungstest waren es noch Monate –, aber in letzter Zeit war ich morgens immer zu früh wach, um schon zur Arbeit zu gehen, und viel zu ruhelos für irgendetwas anderes, und ich hatte festgestellt, dass Zielschießen das Einzige war, was gegen die Nervosität wirkte. Ich ließ mir viel Zeit beim Aufsetzen der Ohrenschützer und beim Überprüfen meiner Pistole, wartete, bis alle anderen sich auf ihre eigenen Ziele konzentrierten, damit keiner sah, dass ich bei den ersten Schüssen schlotterte wie eine unter Strom gesetzte Zeichentrickfigur. Nervenbündel entwickeln besondere Strategien, unauffällige Tricks, damit niemand etwas merkt. Wer schnell lernt, schafft es schon bald, den ganzen Tag hindurch fast wie ein normaler Mensch zu wirken.
    Ich war vorher nie so gewesen. Ich dachte immer, ein schwaches Nervenkostüm hätten nur Jane-Austen-Figuren und Mädchen mit Heliumstimmen, die ihre Drinks nie selbst bezahlen. In einer Krisensituation zittrig zu werden war für mich ebenso abwegig, wie mit einem Riechsalzfläschchen durch die Gegend zu laufen. Von dem Drogenboss der UCD niedergestochen zu werden hatte mich nicht aus der Bahn geworfen. Der Polizeipsychologe versuchte wochenlang, mich davon zu überzeugen, dass ich schwer traumatisiert war, bis er schließlich aufgeben und eingestehen musste, dass es mir gutging (mit leichtem Bedauern; er hat nicht oft Gelegenheit, mit niedergestochenen Cops herumzuexperimentieren, ich glaube, er hatte gehofft, bei mir irgendeinen ausgefallenen Komplex feststellen zu können), und mich wieder zur Arbeit gehen ließ.
    Der Fall, der mich dann umhaute, war peinlicherweise kein spektakulärer Massenmord oder eine schlecht ausgegangene Geiselnahme oder ein netter, stiller Typ mit menschlichen Organen in Tupperdosen. Mein letzter Fall im Morddezernat war so simpel, nicht viel anders als Dutzende andere auch, nichts, was uns hätte vorwarnen können: Bloß ein kleines Mädchen, das an einem Sommermorgen tot aufgefunden wurde, und mein Partner und ich alberten im Büro herum, als die Meldung kam. Von außen betrachtet, lief es sogar gut. Offiziell lösten wir den Fall in knapp einem Monat, die Gesellschaft wurde von einem Übeltäter befreit, in den Medien und der Jahresstatistik nahm sich alles prächtig aus. Es gab keine dramatischen Verfolgungsjagden, keine Schießereien, nichts dergleichen. Ich war diejenige, die es noch am schlimmsten erwischt hatte, zumindest physisch, und ich war mit ein paar Kratzern im Gesicht davongekommen. Es waren nicht mal Narben zurückgeblieben. Ein richtiges Happy End, allenthalben.
    Unter der Oberfläche jedoch – SOKO »Vestalin« oder Knocknaree-Fall: Wer einen vom Morddezernat darauf anspricht, selbst jetzt noch, selbst einen von den Jungs, die nicht die ganze Geschichte kennen, erntet sofort diesen Blick, Hände und Augenbrauen gehen vielsagend hoch, während der Angesprochene sich von dem Desaster und dem Kollateralschaden distanziert. In jeder entscheidenden Hinsicht haben wir verloren, und zwar absolut. Manche Leute sind kleine Tschernobyls, in ihnen glimmert ein lautloses, unaufhaltsames Gift: Komm ihnen zu nahe, und jeder Atemzug zerstört dich mehr und mehr. Einige Fälle – da können Sie jeden Cop fragen – sind heimtückisch und unheilbar, verschlingen alles, was mit ihnen in Berührung kommt.
    Ich zeigte danach eine ganze Palette von Symptomen, bei denen der Psychologe in seinen kleinen Ledersandalen begeistert auf- und abgehüpft wäre, doch Gott sei Dank kam keiner auf die Idee, mich wegen ein paar Kratzern im Gesicht zur Therapie zu schicken. Es waren Traumasymptome wie aus dem Lehrbuch – zittern, nichts essen können, zu Tode erschrecken, wenn es an der Tür schellte oder das Telefon klingelte –, mit ein paar individuellen Beilagen. Meine Koordination schlug Kapriolen. Zum
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