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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich
Autoren: Tana French
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flapsige Bemerkung gemacht, von wegen, er würde sich viel zu sehr amüsieren, um jemanden zu vermissen, aber bevor er das sagte, bevor er antwortete, da war so eine kleine Pause. Ein verwirrtes Zögern. Als hätte er nicht gleich gewusst, wen ich meinte. Ich kenne Rafe, und ich schwöre, er hätte fast gesagt: ›Wer?‹«
    Eine Etage höher plärrte nur halb durch die Decke gedämpft ein Telefon los, mit »Baby Got Back« als Klingelton, und jemand polterte über den Fußboden, um dranzugehen. »Er war ziemlich betrunken«, sagte Abby. »Wie immer. Trotzdem … seitdem frage ich mich immer wieder, ob wir einander vergessen. Ob wir in ein oder zwei Jahren aus dem Kopf der jeweils anderen gelöscht sein werden, verschwunden, als hätten wir uns nie gekannt. Ob wir auf der Straße aneinander vorbeigehen könnten, ganz dicht, ohne mit der Wimper zu zucken.«
    »Keine Vergangenheit«, sagte ich.
    »Keine Vergangenheit. Manchmal« – ein kurzer Atemzug – »kann ich ihre Gesichter nicht mehr sehen. Rafe und Justin, bei denen geht’s noch. Aber Lexie. Und Daniel.«
    Ich sah, wie sie den Kopf drehte, ihr Profil vor dem Fenster: die Stupsnase, eine Haarsträhne, die sich gelöst hatte. »Ich hab ihn geliebt, weißt du«, sagte sie. »Ich hätte ihn so sehr geliebt, wie er mich gelassen hätte, bis ans Ende meines Lebens.«
    »Ich weiß«, sagte ich. Ich wollte ihr sagen, dass es auch eine Gabe ist, geliebt zu werden, dass es ebenso viel Mut und Arbeit verlangt wie lieben, dass manche Menschen es nie lernen, aus welchem Grund auch immer. Stattdessen holte ich die Fotokopien wieder aus meiner Tasche und blätterte sie durch – ich musste sie mir förmlich vor die Nase halten, um etwas sehen zu können –, bis ich die streifige Farbkopie von dem Schnappschuss fand: sie alle fünf, lächelnd, eingehüllt in fallendem Schnee und Stille, draußen vor Whitethorn House. »Da«, sagte ich und hielt sie Abby hin.
    Ihre Hand, blass in der Beinahe-Dunkelheit, griff danach. Sie trat ans Fenster, hielt das Blatt ins letzte Licht.
    »Danke«, sagte sie nach einem Augenblick. »Das werde ich behalten.« Sie stand noch immer da und betrachtete es, als ich die Tür schloss.

    Danach hoffte ich, dass ich von Lexie träumen würde, nur ab und zu mal. In der Erinnerung der anderen verblasst sie von Tag zu Tag mehr. Bald wird sie endgültig verschwunden sein, sie wird nur noch Glockenblumen und ein Weißdornbusch sein, in einem verfallenen Cottage, in das sich niemand verirrt. Ich fand, dass ich ihr meine Träume schuldig war. Aber sie kam nie. Was immer sie auch von mir wollte, ich hatte es ihr wohl gegeben, irgendwo unterwegs. Das Einzige, wovon ich träume, ist das Haus, leer, offen für Sonne, Staub und Efeu; Schlurfen und Flüstern, immer gerade um die nächste Ecke, und eine von uns, sie oder ich, im Spiegel, lachend.
    Eines hoffe ich: dass sie nie stehen geblieben ist. Ich hoffe, als ihr Körper nicht mehr weiterlaufen konnte, hat sie ihn zurückgelassen, wie alles andere, was je versucht hat, sie festzuhalten, ich hoffe, dass sie das Pedal bis zum Anschlag durchgetreten hat und wie der Wind davongefegt ist, durch die Nacht die Highways hinunter, beide Hände vom Lenkrad gehoben und den Kopf im Nacken, dass sie hinauf in den Himmel geschrien hat wie ein Luchs, weiße Linien und grüne Lichter, die in die Dunkelheit hinein davonjagen, ihre Reifen nur Millimeter über dem Boden und das Gefühl von Freiheit, das ihr den Rücken hochzischt. Ich hoffe, jede Sekunde, die sie hätte haben können, ist wie ein Sturmwind durch das Cottage gerauscht: Schleifen und salzige Gischt, ein Ehering und Chads Mutter, die vor Rührung weint, Sonnenfältchen und Galoppaden durch wildes rotes Buschwerk, der erste Zahn eines Babys und seine Schulterblätter wie winzige Flügel in Amsterdam Toronto Dubai; Weißdornblüten, die durch Sommerluft wirbeln, Daniels Haar, das grau wird unter hohen Decken und Kerzenflammen, und die zauberhaften Klänge von Abbys Gesang. Die Zeit tut so viel für uns, hat Daniel einmal zu mir gesagt. Ich hoffe, diese letzten paar Minuten haben alles für sie getan. Ich hoffe, in jener halben Stunde hat sie all ihre unzähligen Leben gelebt.

Danksagung
    Von mal zu mal schulde ich mehr Menschen ein riesiges Dankeschön: dem wunderbaren Darley Anderson und allen in der Agentur, vor allem Zoë, Emma, Lucie und Maddie; drei unglaublichen Lektorinnen, Ciara Considine bei Hachette Books Ireland, Sue Fletcher bei Hodder & Stoughton und
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