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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich
Autoren: Tana French
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angeboten bekommen, für ein trendiges Modelabel eine Kollektion zu entwerfen. Sie hatten sich keine großen Sorgen gemacht, als sie eines Morgens verschwunden war. Mags würde schon klarkommen, meinten sie, das sei schon immer so gewesen.
    Der Brief von Chad steckte mit einer Büroklammer an einem unscharfen Schnappschuss von den beiden vor einem See, an einem flirrend heißen Tag. Sie trug einen langen Zopf und ein viel zu großes T-Shirt und lächelte schüchtern, den Kopf leicht von der Kamera weggedreht. Chad war groß und braungebrannt und schlaksig, und sein volles hellbraunes Haar hing ihm bis in die Stirn. Er hatte einen Arm um sie gelegt, und er blickte zu ihr hinunter, als könnte er sein Glück nicht fassen. Ich wünschte nur, Du hättest mir eine Chance gegeben mitzukommen, stand in dem Brief, nur eine Chance, May. Ich wäre überallhin mitgegangen. Was immer Du auch gewollt hast, ich hoffe, Du hast es gefunden. Ich wünschte bloß, ich wüsste, was es war und warum ich es nicht war.

    Ich fotokopierte die Fotos und Zeugenaussagen und schickte die Akte zurück an Frank mit einem Post-it, auf dem »Danke« stand. Am nächsten Nachmittag machte ich früh Feierabend und ging Abby besuchen.
    Ihre neue Adresse stand in der Akte: Sie wohnte im Studentenviertel Ranelagh, in einem heruntergekommenen kleinen Haus mit Unkraut im Vorgarten und zu vielen Klingelknöpfen neben der Tür. Ich blieb auf dem Bürgersteig stehen, lehnte mich ans Geländer. Es war fünf Uhr, sie würde bald nach Hause kommen – der Mensch ist ein Gewohnheitstier –, und sie sollte mich schon von weitem sehen können, damit sie Zeit hatte, sich innerlich zu wappnen, ehe sie mich erreichte.
    Etwa eine halbe Stunde später bog sie um die Ecke. Sie trug ihren langen grauen Mantel und hatte in jeder Hand eine Einkaufstüte. Auf die Entfernung konnte ich ihr Gesicht nicht sehen, aber der flotte, resolute Gang war mir nur allzu vertraut. Ich sah den Augenblick, als sie mich erkannte, das heftige Stocken, das Nachfassen der Tüten, die ihr fast aus den Händen rutschten, die lange Pause nach der Schrecksekunde, als sie mitten auf dem leeren Bürgersteig stand und überlegte, ob sie kehrtmachen und woanders hingehen sollte, irgendwohin, das Heben ihrer Schultern, als sie tief Luft holte und weiterging, auf mich zu. Ich musste an den ersten Morgen denken, am Küchentisch: wie ich gedacht hatte, dass wir unter anderen Umständen Freundinnen hätten sein können.
    Sie blieb reglos am Gartentor stehen, studierte mein Gesicht gründlich, bewusst und unnachgiebig. »Ich sollte dich windelweich prügeln«, sagte sie schließlich.
    Sie sah nicht danach aus, als wäre sie dazu imstande. Sie hatte stark abgenommen und trug einen Haarknoten, der ihr Gesicht noch schmaler wirken ließ, aber das war es nicht allein. Etwas war aus ihrer Haut verschwunden: Strahlkraft, Energie. Zum ersten Mal bekam ich eine Ahnung davon, wie sie als alte Frau sein würde, aufrecht und scharfzüngig und drahtig, mit müden Augen.
    »Du hättest alles Recht dazu«, sagte ich.
    »Was willst du?«
    »Fünf Minuten«, sagte ich. »Wir haben einiges über Lexie in Erfahrung gebracht. Ich dachte, du würdest es vielleicht gern wissen. Es könnte … ich weiß nicht. Es könnte eine Hilfe sein.«
    Ein schmächtiger Teenager mit Docs und iPod fegte an uns vorbei, verschwand ins Haus und knallte die Tür hinter sich zu. »Darf ich reinkommen?«, fragte ich. »Aber wenn’s dir lieber ist, können wir auch hier draußen bleiben. Bloß fünf Minuten.«
    »Wie heißt du noch mal? Sie haben es uns gesagt, aber ich hab’s vergessen.«
    »Cassie Maddox.«
    »Detective Cassie Maddox«, sagte Abby. Nach einem Moment schob sie den Griff einer Tüte hoch übers Handgelenk und holte ihre Schlüssel hervor. »Okay. Dann komm eben mit rein. Wenn ich sage, du sollst gehen, dann gehst du.« Ich nickte.
    Ihre Wohnung bestand aus einem Zimmer, nach hinten raus im ersten Stock, war kleiner als meine und kahler: ein Bett, ein Sessel, ein mit Brettern vernagelter Kamin, ein Minikühlschrank, ein winziger Tisch und ein Stuhl vor dem Fenster, keine Tür, die in eine Küche oder ein Badezimmer führte, nichts an den Wänden, keine Nippsachen auf dem Kaminsims. Es war ein warmer Abend, aber die Luft in der Wohnung war kühl wie Wasser. An der Decke waren schwache Feuchtigkeitsflecken, aber ansonsten war jeder Quadratzentimeter blitzsauber, und ein großes Schiebefenster ging nach Westen, was den Raum in ein
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