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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich
Autoren: Tana French
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Augen. Sie mussten ihn im Krankenwagen wegbringen. Er ist nicht zurückgekommen.«
    Sie nahm eine Münze von einem ordentlichen Stapel auf dem Kühlschrank und steckte sie in den Stromzähler, drehte den Knopf. »Wir telefonieren ab und an. Er unterrichtet Englisch an einer Jungenschule, als Vertretung für eine Frau in Elternzeit. Er sagt, die Kinder sind verwöhnte kleine Monster, und sie schreiben dauernd ›Mr Mannering ist eine Schwuchtel‹ an die Tafel, aber es ist wenigstens friedlich – irgendwo draußen auf dem Land –, und die anderen Lehrer lassen ihn in Ruhe. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er oder Rafe das Zeug da haben wollen.« Sie nickte Richtung Tisch. »Und ich werde sie nicht fragen. Wenn du mit ihnen reden willst, von mir aus. Aber ich muss dich warnen, ich glaube nicht, dass sie vor Freude Luftsprünge machen, wenn sie von dir hören.«
    »Kann ich ihnen nicht verdenken«, sagte ich. Ich ging zu dem Tisch, nahm die Papiere und schob sie zurecht. Der Garten unter dem Fenster war verwildert, übersät mit grellbunten Chipstüten und leeren Flaschen.
    Hinter mir sagte Abby ohne die geringste Modulation in der Stimme: »Wir werden dich immer hassen.«
    Ich drehte mich nicht um. Ob es mir gefiel oder nicht, in diesem kleinen Raum war mein Gesicht noch immer eine Waffe, eine blanke Klinge, die zwischen ihr und mir lag. Für sie war es leichter zu reden, wenn sie es nicht sehen konnte. »Ich weiß«, sagte ich.
    »Wenn du dir so was wie Absolution erhofft hast, bist du bei mir falsch.«
    »Hab ich nicht«, sagte ich. »Die Informationen hier sind das Einzige, was ich dir anbieten kann, daher dachte ich, ich muss es versuchen. Das bin ich dir schuldig.«
    Nach einer Sekunde hörte ich sie seufzen. »Wir glauben ja nicht, das alles nur deine Schuld ist. Wir sind nicht blöd. Schon ehe du zu uns kamst … « Eine Bewegung: Vielleicht hatte sie das Gewicht verlagert, sich das Haar nach hinten gestrichen, irgendetwas. »Daniel hat gelaubt, noch bis ganz zum Schluss, wir könnten alles wieder hinbiegen, es käme alles wieder in Ordnung. Ich hab das nicht geglaubt. Selbst wenn Lexie überlebt hätte … ich glaube, als deine Kumpel bei uns vor der Tür standen, da war es schon zu spät. Es hatte sich zu viel verändert.«
    »Du und Daniel«, sagte ich. »Rafe und Justin.«
    Wieder eine kurze Pause. »Ich schätze, es war offensichtlich. In jener Nacht, der Nacht, als Lexie starb … wir hätten es sonst nicht durchstehen können. Es hätte auch kein großes Drama sein müssen. Es waren schon vorher diverse Sachen passiert, immer mal wieder, und das hat nie einem groß was ausgemacht. Aber in jener Nacht … «
    Ich hörte sie schlucken. »Davor hatten wir ein Gleichgewicht, weißt du? Alle wussten, dass Justin in Rafe verliebt war, aber es war einfach da, im Hintergrund. Mir war nicht mal klar gewesen, dass ich … Halt mich ruhig für blöd, aber es war mir echt nicht klar. Ich hab nur gedacht, Daniel wäre der beste Freund, den ich mir wünschen könnte. Ich glaube, wir hätten alle so weitermachen können, vielleicht für immer – oder vielleicht nicht. Aber in der Nacht war es anders. In dem Moment, als Daniel sagte: ›Sie ist tot‹, veränderte sich die Situation. Alles wurde klarer, unerträglich klar, als ob irgendeine superhelle Lampe angeschaltet worden wäre und man nie wieder die Augen schließen könnte, nicht mal für eine Sekunde. Weißt du, was ich meine?«
    »Ja«, sagte ich. »Ich weiß.«
    »Danach, selbst wenn Lexie doch noch nach Hause gekommen wäre, ich weiß nicht, ob wir … «
    Ihre Stimme verklang. Ich drehte mich um und sah, dass sie mich betrachtete, eindringlicher, als ich erwartet hatte. »Du klingst nicht wie sie«, sagte sie. »Du bewegst dich nicht mal wie sie. Bist du ihr überhaupt irgendwie ähnlich?«
    »Wir hatten einiges gemeinsam«, sagte ich. »Nicht alles.«
    Abby nickte. Nach einem Augenblick sagte sie: »Ich möchte, dass du jetzt gehst.«
    Ich hatte die Hand schon an der Türklinke, als sie unvermittelt und fast widerwillig sagte: »Willst du was Seltsames hören?«
    Es wurde allmählich dunkel, ihr Gesicht sah aus, als würde es sich in den dämmrigen Raum hinein verlieren. »Einmal, als ich Rafe angerufen hab, da war er nicht unterwegs, er war zu Hause, auf dem Balkon seiner Wohnung. Es war spät. Wir haben uns eine Weile unterhalten. Ich hab irgendwas über Lexie gesagt – dass sie mir immer noch fehlt, obwohl … trotz allem. Rafe hat irgendeine
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