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Norderney-Bunker

Norderney-Bunker

Titel: Norderney-Bunker
Autoren: Manfred Reuter
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Prolog

    Ich wollte, dass dieser Tag begann. Er war ja noch so jung. Ein Kind, fast ein Säuglingum diese Zeit, da die Sonne sich noch nicht dafür erwärmen konnte, den frühen Nebel über Feld und Wiesen vom Horizont zu wischen. Ja. Gewiss. Auch dieser Tag hatte es nicht verdient, ihn mürrisch und mit verschränkten Armen zu empfangen. Ich hatte mir jedenfalls fest vorgenommen, ihm und all seinen Nachkömmlingen künftig freundlich entgegenzutreten und nicht wieder gleich nach dem Bösen in ihnen zu suchen. Denn das war mir oft genug passiert, meist mit bitterem Ende. Also schnappte ich mir meine Klampfe und zog die Tür ins Schloss. Leise. Die drei anderen schliefen noch. Sie waren am Abend zuvor nach und nach eingetröpfelt in die Gemeinschaftsunterkunft im Zentrum der Stadt. Man hatte riechen können, warum ihre Blicke die Richtung verloren und die Sprache die Kontur. Ich lief die Treppe hinunter und verließ das Haus, nicht ohne einen Blick in den Fernsehraum zu werfen. Im Frühstücksprogramm zeigten sie gerade Bilder von Tankstellen. Mehrere nervös blickende Menschen sprachen ins Mikrofon; sie wirkten aufgebracht, manche sogar ein wenig aggressiv. Dann der Schnitt. Nahaufnahme: Diesel 1,54 Euro. „Na, super, aber was schert’s mich“, dachte ich. Dann ein Interview. Erneut Aufregung und Kopfschütteln. Schließlich ein neuer Schnitt. Die Konzernzentrale. Ein Herr in hoffmannsgestärktem Hemd, staatstragend-dunklem Jackett und mit ebenso überzüchtetem wie hochmütigen Lächeln, sprach ins Mikrofon. Im Hintergrund gläserne Wände, von innen durchschaubar, von außen Blicke tötend in trügerischem Glanz. Dann ein Treppenaufgang in leuchtendem Marmor, auf dem sich gerade zwei fettleibige Männerkörper in verbeultem Edelzwirn und italienischen Schuhen aufwärts bewegten. Ob der Aufzug wohl kaputt war? Ich lächelte und warf Kempowski, der die Auricher Notbleibe für Nichtsesshafte schon seit ein paar Jahren mit Leidenschaft und innerer Hingabe leitete, einen gedehnten, aber äußerst entspannten Gruß zu: „Moin!“
    Seine Aufforderung, in eine Schnitte Brot zu beißen, bevor ich mich auf den Weg machte, lehnte ich dankend ab und zog stattdessen knisternd eine zerknautschte Packung Tabak aus der Hosentasche. Kempowski schüttelte den Kopf und rief: „Manche lernen’s nie, andere noch später; und dann können sie es immer noch nicht.“

    Dabei lachte er mich an, zog seinerseits eine Marlboro aus der Hemdtasche und steckte sie sich zwischen die Lippen. Ja, Kempowski, die gute Seele des Hauses, das in Insiderkreisen längst „Kempinski am Georgswall“ genannt wurde. Wie gut, dass es Kempowski gab. Ich schwang mich nun mit breitem Grinsen aufs Rad. Sollten die im Fernsehen doch sehen, wie sie mit ihren Spritpreisen und bonzigen Limousinen glücklich würden. „Dekadentes Lügengesindel“, dachte ich und trat in die Pedale.
    Wie hatte ich mich doch auf diesen Tag gefreut. Endlich wieder Aurich. Endlich wieder Boomtown. Hier pfiff der Wind sein ganz spezielles Lied. Unzählige Baukräne erhoben sich majestätisch in den Himmel, dazu großzügig aufgerissene Straßen, Pflastersteine in allen Farben und Formen sowie tonnenweise Füllsand, der den Eindruck erweckte, weniger gelb, denn golden zu schimmern. Es regnete Wohlstand vom Himmel, nichts hatte sich verändert. Das Geschäft mit der Windenergie entpuppte sich nicht nur als zukunftsträchtig, sondern via Gewerbesteueraufkommen auch als die kommunale Fleischwerdung eines Sechsers im Lotto. Mit Superzahl!
    Ich steuerte meinen Lieblingsplatz an, die Bank zwischen Friseurladen Raap und Douglas . Dort roch es immer so gut, wenngleich Gucci und Chanel nicht selten ihre Kräfte mit dem Dunst einer frisch gegrillten Bratwurst aus dem Pommes-Tempel von nebenan messen mussten. Ich dachte an Kempowski, und bevor ich „Hotel California“ anstimmte, fuhr ich mir mit der Hand durchs schulterlange, tiefschwarze Haar. Und auch von meinem zweiten Markenzeichen, dem Stirnband, hatte ich mich nicht getrennt. Denn: Beide sollten auch künftig mit mir durchs Leben und – wenn’s denn sein musste – in die ewigen Jagdgründe gehen. Hier, ja, genau an dieser Stelle, wo es immer so gut roch – hier hatte ich auch vor vier Wochen und zwei Tagen gesessen, an dem Tag, an dem mein Leben um ein Haar eine entscheidende Wendung genommen hätte. Ich fragte mich allerdings noch immer, warum die Sache mit so viel Blutvergießen enden musste.

Viel Los
    Verkaufsoffener Sonntag
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