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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich
Autoren: Tana French
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Irland je hatte, hieß es, verwegen und furchtlos, ein Seiltänzer ohne Netz, niemals. Er schlenderte in IRA-Zellen und Verbrecherbanden hinein wie in seine Stammkneipe. Man hatte mir die Geschichte erzählt: Als »die Schlange« – ein Berufsgangster und Oberirrer, der einmal einen seiner eigenen Leute zum Krüppel geschlagen hatte, weil der ihm kein Bier spendieren wollte – misstrauisch wurde und drohte, ihm die Hand mit einer Nagelpistole zu durchschießen, sah Frank ihm kaltblütig in die Augen und bluffte, bis die Schlange ihm auf den Rücken klopfte und zur Entschuldigung eine nachgemachte Rolex schenkte. Frank trägt sie noch heute.
    Ich war eine blutige Anfängerin, hatte die Polizeiakademie Templemore erst vor einem Jahr abgeschlossen. Als Frank ein paar Tage zuvor in einem internen Rundschreiben nach Cops suchte, die studiert hatten und für Anfang zwanzig durchgingen, trug ich eine neongelbe Weste, die mir zu weit war, und lief Streife in einer Kleinstadt im County Sligo, wo die meisten Einheimischen beängstigend ähnlich aussahen. Ich hätte seinetwegen nervös sein müssen, aber ich war es nicht, nicht im Geringsten. Ich wollte den Job zu sehr, um noch Platz für irgendetwas anderes zu haben.
    Seine Bürotür stand auf, er saß auf der Kante seines Schreibtisches, in Jeans und einem verschossenen blauen T-Shirt, und blätterte in meiner Akte. Das Büro war klein und sah unordentlich aus, als würde er es hauptsächlich als Lagerraum nutzen. Der Schreibtisch war leer, nicht einmal ein Familienfoto. Auf den Regalen lagen außer Unterlagen Blues-CDs, Boulevardblätter, ein Poker-Spiel und eine rosa Frauenstrickjacke, an der noch das Etikett hing. Ich beschloss, dass ich den Typ mochte.
    »Cassandra Maddox«, sagte er und blickte auf.
    »Ja, Sir«, sagte ich. Er war mittelgroß, stämmig, aber fit, mit breiten Schultern und kurz geschnittenem braunen Haar. Ich hatte jemanden Unscheinbaren erwartet, der praktisch unsichtbar wäre, wie der »Krebskandidat« aus Akte X , aber dieser Bursche hatte ein raues, offenes Gesicht und eine Präsenz, die ein Hitzeflirren in der Luft zurückließ. Er war nicht mein Typ, aber ich war ziemlich sicher, dass er bei Frauen gut ankam.
    »Frank. ›Sir‹ ist was für Schreibtischhengste.« Er sprach klassisch Dubliner Akzent, dezent, aber mit Vorsatz, wie eine Herausforderung. Er rutschte vom Schreibtisch und streckte die Hand aus.
    »Cassie«, sagte ich und schüttelte sie.
    Er deutete auf einen Stuhl und setzte sich wieder auf die Schreibtischkante. »Hier steht«, sagte er und tippte auf meine Akte, »Sie sind gut unter Druck.«
    Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was er meinte. Als ich noch in der Ausbildung in einem heruntergekommenen Viertel von Cork stationiert war, hatte ich einmal einen schizophrenen Teenager beruhigt, der in Panik geraten war und sich mit dem Rasiermesser seines Großvaters die Kehle durchschneiden wollte. Ich hatte die Geschichte schon fast vergessen. Erst in dem Moment wurde mir klar, dass ich wahrscheinlich deshalb für den Job in die engere Wahl gekommen war.
    »Ich hoffe«, sagte ich.
    »Sie sind, wie alt – siebenundzwanzig?«
    »Sechsundzwanzig.«
    Das Licht, das durchs Fenster fiel, schien mir ins Gesicht, und er musterte mich mit einem langen, prüfenden Blick. »Sie könnten für einundzwanzig durchgehen, kein Problem. Hier steht, Sie haben drei Jahre studiert. Wo?«
    »Trinity. Psychologie.«
    Seine Augenbrauen schnellten hoch, gespielt beeindruckt. »Aha, ein Profi. Warum haben Sie keinen Abschluss gemacht?«
    »Ich hab eine bislang unerforschte Allergie gegen angloirische Akzente entwickelt«, erklärte ich.
    Das gefiel ihm. »Würden Sie am UCD Ausschlag kriegen?«
    »Dann nehme ich meine Antihistamine.«
    Frank hüpfte von seinem Schreibtisch und ging zum Fenster, winkte mir, ihm zu folgen. »Okay«, sagte er. »Sehen Sie das Pärchen da unten?«
    Ein junger Mann und eine junge Frau kamen plaudernd die Straße hoch. Sie kramte einen Schlüssel hervor und schloss die Tür zu einem tristen Mietshaus auf, in dem sie verschwanden.
    »Erzählen Sie mir was über die beiden«, sagte Frank. Er lehnte sich gegen das Fenster, hakte die Daumen in seinen Gürtel und sah mich an.
    »Beides Studenten«, sagte ich. »Büchertaschen. Sie waren im Supermarkt einkaufen – die Einkaufstüten von Dunne’s. Sie hat mehr Geld als er, ihre Jacke war teuer, aber er hat einen Flicken auf der Jeans, und zwar nicht aus modischen
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