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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich
Autoren: Tana French
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dem Beruf gearbeitet, aber aufgehört, als Sie sieben waren und Ihre Familie Irland verlassen hat. Möchten Sie Geschwister?«
    »Klar, warum nicht?«, sagte ich. »Ich hab einen Bruder.« Das Ganze hatte etwas Berauschendes an sich. Ich hätte die ganze Zeit lachen können, vor lauter verschwenderischer, schwindelerregender Freiheit: Angehörige und Länder und Möglichkeiten breiteten sich vor mir aus, und ich konnte mir aussuchen, was ich wollte, ich konnte in einem Palast in Bhutan mit siebzehn Geschwistern und eigenem Chauffeur aufgewachsen sein, wenn mir danach war. Ich stopfte mir noch einen Keks in den Mund, damit Frank mich nicht lächeln sah und womöglich dachte, ich würde die Sache nicht ernst nehmen.
    »Ganz wie Sie wollen. Er ist sechs Jahre jünger, also ist er in Kanada bei Ihren Eltern. Wie heißt er?«
    »Stephen.« Mein imaginärer Bruder. Ich hatte eine lebhafte Phantasie als Kind.
    »Verstehen Sie sich mit ihm? Wie ist er? Schneller«, sagte Frank, als ich Atem holte.
    »Er ist ein kleiner Klugscheißer. Fußballverrückt. Hat dauernd Krach mit unseren Eltern, weil er fünfzehn ist, aber er spricht noch mit mir … «
    Die Sonne fiel schräg über das verschrammte Holz der Schreibtischplatte. Frank roch sauber, nach Seife und Leder. Er war ein guter Lehrer, ein wunderbarer Lehrer. Sein schwarzer Kuli kritzelte Daten und Orte und Ereignisse nieder, und Lexie Madison entwickelte sich aus dem Nichts wie ein Polaroid, sie löste sich von dem Blatt Papier und schwebte in der Luft wie Weihrauch, eine junge Frau mit meinem Gesicht und einem Leben aus einem halbvergessenen Traum. Wann hatten Sie Ihren ersten Freund? Wo haben Sie da gewohnt? Wie hieß er? Wer hat mit wem Schluss gemacht? Warum? Frank holte einen Aschenbecher, schnippte für mich eine Player’s aus seiner Packung. Als die Sonnenstrahlen vom Schreibtisch glitten und der Himmel draußen vor dem Fenster langsam trüb wurde, drehte er sich mit seinem Stuhl herum, nahm eine Flasche Whiskey aus einem Regal und goss uns einen Schuss in den Kaffee. »Haben wir uns verdient«, sagte er. »Cheers.«
    Wir machten aus Lexie eine Ruhelose: intelligent und gebildet, ihr Leben lang ein braves Mädchen, aber eines, das aufgewachsen war, ohne sich je irgendwo niederzulassen, und es auch nie gelernt hatte. Ein bisschen naiv vielleicht, ein bisschen unbedacht, allzu bereit, einem ohne nachzudenken alles zu verraten, was man wissen wollte. »Sie ist ein Köder«, sagte Frank unverblümt, »und sie muss der richtige Köder sein, damit die Dealer anbeißen. Sie muss so unschuldig wirken, dass sie sie nicht für eine Bedrohung halten, so unbescholten, dass sie ihnen nützen kann, und so rebellisch, dass sie sich nicht fragen, warum sie mitspielen will.«
    Es war dunkel, als wir fertig waren. »Gute Arbeit«, sagte Frank, faltete den Lebenslauf zusammen und gab ihn mir. »In zehn Tagen beginnt ein Detective-Lehrgang, zu dem melde ich Sie an. Danach kommen Sie wieder her, und ich arbeite eine Weile mit Ihnen. Wenn die Uni im Oktober wieder anfängt, sind Sie immatrikuliert.«
    Er angelte eine Lederjacke von der Regalecke, schaltete das Licht aus und schloss die Tür des dunklen, kleinen Büros. Auf dem Weg zur Bushaltestelle war ich wie in Trance, eingehüllt in Magie, ich trieb inmitten eines Geheimnisses und einer funkelnagelneuen Welt, während der Lebenslauf in der Tasche meiner Uniformjacke leise knisterte. Es ging so schnell, und es kam mir so einfach vor.

    Ich werde nicht ausführlich auf die lange, verhedderte Kette von Ereignissen eingehen, die mich von der Undercoverarbeit ins DHG, das Dezernat für häusliche Gewalt, verschlug. Die Kurzversion: Der führende Amphetamin-Süchtige am UCD wurde paranoid und stach mit einem Messer auf mich ein, nach meiner Genesung hatte ich als im Dienst Verwundete einen Wunsch frei und ging zum Morddezernat, das Morddezernat entpuppte sich als zu große Nervenbelastung, ich stieg aus. Ich hatte seit Jahren nicht mehr an Lexie und ihr kurzes, schattenhaftes Leben gedacht. Ich bin nicht der Typ, der ständig über die Schulter nach hinten blickt, zumindest bemühe ich mich nach Kräften. Vorbei ist vorbei, sich etwas anderes vorzumachen ist Zeitverschwendung. Aber jetzt denke ich, ich habe immer gewusst, dass Lexie Madison Konsequenzen haben würde. Man kann nicht eine ganze Person erfinden, einen Menschen mit einem ersten Kuss und mit Humor und einem Lieblingssandwich, und dann erwarten, dass diese Person sich auflöst
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