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Der gruene Heinrich [Zweite Fassung]

Der gruene Heinrich [Zweite Fassung]

Titel: Der gruene Heinrich [Zweite Fassung]
Autoren: Gottfried Keller
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Erster Band
Erstes Kapitel
Lob des Herkommens
    Mein Vater war ein Bauernsohn aus einem uralten Dorfe, welches seinen Namen von dem Alemannen erhalten hat, der zur Zeit der Landteilung seinen Spieß dort in die Erde steckte und einen Hof baute. Nachdem im Verlauf der Jahrhunderte das namengebende Geschlecht im Volke verschwunden, machte ein Lehenmann den Dorfnamen zu seinem Titel und baute ein Schloß, von dem niemand mehr weiß, wo es gestanden hat; ebensowenig ist bekannt, wann der letzte »Edle« jenes Stammes gestorben ist. Aber das Dorf steht noch da, seelenreich, und belebter als je, während ein paar Dutzend Zunamen unverändert geblieben und für die zahlreichen, weitläufigen Geschlechter fort und fort ausreichen müssen. Der kleine Gottesacker, welcher sich rings an die trotz ihres Alters immer weiß geputzte Kirche legt und niemals erweitert worden ist, besteht in seiner Erde buchstäblich aus den aufgelösten Gebeinen der vorübergegangenen Geschlechter; es ist unmöglich, daß bis zur Tiefe von zehn Fuß ein Körnlein sei, welches nicht seine Wanderung durch den menschlichen Organismus gemacht und einst die übrige Erde mit umgraben geholfen hat. Doch ich übertreibe und vergesse die vier Tannenbretter, welche jedesmal mit in die Erde kommen und den ebenso alten Riesengeschlechtern auf den grünen Bergen rings entstammen; ich vergesse ferner die derbe ehrliche Leinwand der Grabhemden, welche auf diesen Fluren wuchs, gesponnen und gebleicht wurde und also so gut zur Familie gehört wie jene Tannenbretter und nicht hindert, daß die Erde unseres Kirchhofes so schön kühl und schwarz sei als irgend eine. Es wächst auch das grünste Gras darauf, und die Rosen nebst dem Jasmin wuchern in göttlicher Unordnung und Überfülle, so daß nicht einzelne Stäudlein auf ein frisches Grab gesetzt, sondern das Grab muß in den Blumenwald hineingehauen werden, und nur der Totengräber kennt genau die Grenze in diesem Wirrsal, wo das frisch umzugrabende Gebiet anfängt.
    Das Dorf zählt kaum zweitausend Bewohner, von welchen je ein paar hundert den gleichen Namen führen; aber höchstens zwanzig bis dreißig von diesen pflegen sich Vetter zu nennen, weil die Erinnerungen selten bis zum Urgroßvater hinaufsteigen. Aus der unergründlichen Tiefe der Zeiten an das Tageslicht gestiegen, sonnen sich diese Menschen darin, so gut es gehen will, rühren sich und wehren sich ihrer Haut, um wohl oder wehe wieder in der Dunkelheit zu verschwinden, wenn ihre Zeit gekommen ist. Wenn sie ihre Nasen in die Hand nehmen, so sind sie sattsam überzeugt, daß sie eine ununterbrochene Reihe von zweiunddreißig Ahnen besitzen müssen, und anstatt dem natürlichen Zusammenhange derselben nachzuspüren, sind sie vielmehr bemüht, die Kette ihrerseits nicht ausgehen zu lassen. So kommt es, daß sie alle möglichen Sagen und wunderlichen Geschichten ihrer Gegend mit der größten Genauigkeit erzählen können, ohne zu wissen, wie es zugegangen ist, daß der Großvater die Großmutter nahm. Alle Tugenden glaubt jeder selbst zu besitzen, wenigstens diejenigen, welche nach seiner Lebensweise für ihn wirkliche Tugenden sind, und was die Missetaten betrifft, so hat der Bauer so gut Ursache wie der Herr, die seiner Väter in Vergessenheit begraben zu wünschen; denn er ist zuweilen trotz seines Hochmutes auch nur ein Mensch.
    Ein großes rundes Gebiet von Feld und Wald bildet ein reiches, unverwüstliches Vermögen der Bewohner. Dieser Reichtum blieb sich von jeher so ziemlich gleich; wenn auch hie und da eine Braut einen Teil verschleppt, so unternehmen die jungen Bursche dafür häufige Raubzüge bis auf acht Stunden weit und sorgen für hinlänglichen Ersatz sowie dafür, daß die Gemütsanlagen und körperlichen Physiognomien der Gemeinde die gehörige Mannigfaltigkeit bewahren, und sie entwickeln hierin eine tiefere und gelehrtere Einsicht für ein frisches Fortgedeihen als manche reiche Patrizieroder Handelsstadt und als die europäischen Fürstengeschlechter.
    Die Einteilung des Besitzes aber verändert sich von Jahr zu Jahr ein wenig und mit jedem halben Jahrhundert fast bis zur Unkenntlichkeit. Die Kinder der gestrigen Bettler sind heute die Reichen im Dorfe, und die Nachkommen dieser treiben sich morgen mühsam in der Mittelklasse umher, um entweder ganz zu verarmen oder sich wieder aufzuschwingen.
    Mein Vater starb so früh, daß ich ihn nicht mehr von seinem Vater konnte erzählen hören; ich weiß daher so gut wie nichts von diesem
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