Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich
Autoren: Tana French
Vom Netzwerk:
inzwischen am Finger – das Geläster in allen Facetten von liebevoll bis gehässig hatte sich mehr oder weniger gelegt. Die Kollegen vom Morddezernat hatten uns sogar ein rätselhaftes Geschirrteil aus Silber geschenkt, zur Verlobung –, aber diese Verbindung konnte Abby unmöglich herstellen.
    »Genau der. Ich glaube, er hat gedacht, er könnte uns damit schocken und wir würden ihm unser Herz ausschütten. Also?«
    »Wir haben herausgefunden, wer sie war«, sagte ich und hielt ihr die Kopien hin.
    Abby nahm sie und blätterte die Seiten rasch mit dem Daumen durch. Ich musste daran denken, wie geschickt und leichthändig sie immer die Karten gemischt hatte. »Was ist das?«
    »Wo sie überall gelebt hat. Andere Identitäten, die sie benutzt hat. Zeugenaussagen.« Sie sah mich noch immer mit diesem Ausdruck an, leer und endgültig wie ein Schlag ins Gesicht. »Ich dachte, du solltest wenigstens die Möglichkeit haben, sie dir anzusehen, wenn du willst.«
    Abby warf die Blätter auf den Tisch und ging zurück zu den Einkaufstüten, räumte Sachen in den kleinen Kühlschrank: ein halber Liter Milch, ein kleiner Plastikbecher Schokomousse. »Will ich nicht. Ich weiß bereits alles, was ich über Lexie wissen muss.«
    »Ich dachte, es könnte vielleicht einiges erklären. Warum sie getan hat, was sie getan hat. Vielleicht möchtest du es ja lieber nicht wissen, aber –«
    Sie richtete sich blitzschnell auf, so dass die Kühlschranktür heftig in den Angeln schwang. »Was weißt du denn schon? Du hast Lexie ja nicht mal gekannt . Es interessiert mich einen Scheißdreck, ob sie unter einem falschen Namen gelebt hat, ob sie ein Dutzend verschiedene Personen war, Gott weiß, wo alles. Das ist mir völlig egal. Ich hab sie gekannt . Ich hab mit ihr unter einem Dach gelebt . Das war echt. Du bist wie Rafes Vater, der ganze Schwachsinn von der realen Welt. Das, was wir hatten, war die reale Welt. Es war wesentlich realer als das hier.« Sie deutete mit einer ruckartigen Kinnbewegung auf den Raum um uns herum.
    »Das meine ich nicht«, sagte ich. »Ich glaube bloß, dass sie euch nicht weh tun wollte, keinem von euch. So war das nicht.«
    Nach einem Augenblick sackten ihre Schultern herab. »Das hast du schon mal gesagt, an dem Tag. Dass du – dass sie einfach Panik gekriegt hat. Wegen des Babys.«
    »Davon war ich überzeugt«, sagte ich. »Bin es noch.«
    »Ja«, sagte Abby. »Ich auch. Das ist der einzige Grund, warum ich dich reingelassen hab.« Sie schob etwas mit mehr Druck in den Kühlschrank, schloss die Tür.
    »Rafe und Justin«, sagte ich. »Würden sie die Kopien sehen wollen?«
    Abby knüllte die Plastiktüten zusammen und stopfte sie in eine andere Tüte, die an dem Stuhl hing. »Rafe ist in London«, sagte sie. »Er ist gleich abgehauen, als ihr gesagt habt, wir dürften das Land verlassen. Sein Vater hat ihm eine Stelle verschafft – keine Ahnung, was genau, irgendwas mit Finanzen. Er ist dafür völlig unqualifiziert und wahrscheinlich eine Niete, aber solange Daddy seine schützende Hand über ihn hält, wird er wohl nicht gefeuert.«
    »Oh Gott«, sagte ich unwillkürlich. »Er muss todunglücklich sein.«
    Sie zuckte die Achseln und warf mir einen raschen, unergründlichen Blick zu. »Wir haben nicht viel Kontakt. Ich hab ihn ein paarmal angerufen, es ging um den Hausverkauf – es interessiert ihn alles nicht, er sagt immer nur, ich soll entscheiden und ihm die Unterlagen zum Unterschreiben schicken, aber ich muss ihn ja informieren. Ich hab ihn immer abends angerufen, und meistens klang es so, als wäre er in irgendeinem Pub oder Club – laute Musik, grölende Leute. Sie nennen ihn ›Raffy‹. Er war jedes Mal ganz schön angetrunken, was dich ja bestimmt nicht überrascht, aber nein, unglücklich hat er sich nicht angehört. Falls du dich dadurch besser fühlst.«
    Rafe im Mondschein, lächelnd, wie er mir schräge Seitenblicke zuwarf, seine Finger warm an meiner Wange. Rafe mit Lexie, irgendwo – vielleicht die Nische unter dem Efeu. »Und Justin?«
    »Der ist zurück in den Norden. Er hat noch eine Weile versucht, es am Trinity auszuhalten, aber er hat es nicht ertragen – nicht bloß die Blicke und das Getuschel, obwohl das schon schlimm war, sondern … dass nichts mehr so war wie vorher. Ich hab öfter gehört, wie er geweint hat, an seinem Leseplatz. Eines Tages war er auf dem Weg in die Bibliothek und hat es einfach nicht geschafft, er hatte eine Panikattacke, im Philosophicum, vor aller
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher