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Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Erster Teil

Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Erster Teil

Titel: Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Erster Teil
Autoren: Selma Lagerloef
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I. Der Junge
Der Kobold.
    Sonntag, den 20. März.
    Es war einmal ein Junge. Er mochte wohl vierzehn Jahre alt sein, war lang aufgeschossen und hatte flachsgelbes Haar. Er war
     zu nichts recht zu gebrauchen. Am liebsten mochte er schlafen und essen, sein größtes Vergnügen aber war, dumme Streiche zu
     machen.
    Es war an einem Sonntagmorgen. Die Eltern des Jungen waren im Begriff, sich zum Kirchgang anzukleiden. Der Junge selbst saß
     in Hemdärmeln auf dem Tisch und dachte, wie schön es sei, daß Vater und Mutter beide fortgingen, so daß er ein paar Stunden
     lang sein eigener Herr sein konnte. »Jetzt kann ich doch Vaters Flinte herunternehmen und ein wenig damit schießen, ohne daß
     sich gleich jemand dahineinmischt,« sagte er zu sich selbst.
    Aber es war fast, als habe der Vater die Gedanken des Knaben erraten, denn gerade als er in der Tür stand und gehen wollte,
     blieb er stehen und wandte sich nach ihm um.
    »Wenn du nicht mit Mutter und mir in die Kirche willst,« sagte er, »so finde ich, du solltest auf alle Fälleeine Predigt hier zu Hause lesen. Willst du mir das versprechen?«
    »Ja,« sagte der Junge, »das kann ich gerne tun.« Und er dachte natürlich, daß er nicht mehr lesen würde, als er Lust hatte.
    Der Junge meinte, er habe seine Mutter sich noch nie so schnell bewegen sehen. In einem Nu war sie bei dem Wandgesims, nahm
     Luthers Postille herunter und legte sie auf den Tisch am Fenster, die Predigt des Tages aufgeschlagen. Sie schlug auch im
     Evangelienbuch auf und legte es neben die Postille. Schließlich zog sie den großen Lehnstuhl an den Tisch heran, der im vorigen
     Jahr auf der Auktion im Vemmenhöger Pfarrhaus gekauft war, und in dem sonst niemand als der Vater sitzen durfte.
    Der Junge saß da und dachte bei sich, die Mutter mache sich doch gar zu viele Mühe mit den Vorbereitungen, denn er hatte gar
     nicht die Absicht, mehr als eine Seite hier und da zu lesen. Aber nun war es zum zweitenmal gerade so, als wenn der Vater
     ganz durch ihn hindurchsehen könne, denn er sagte strenge: »Sieh nur zu, daß du ordentlich liest! Denn wenn wir nach Hause
     kommen, überhöre ich dir jede Seite, und hast du eine Seite übersprungen, so kannst du mir glauben, ich werd dich lehren!«
    »Die Predigt ist vierzehn und eine halbe Seite lang,« sagte die Mutter, wie um das Maß voll zu machen. »Du mußt dich wohl
     gleich hinsetzen und lesen, wenn du hindurchkommen willst,«
    Und dann gingen sie endlich, und als der Junge inder Tür stand und ihnen nachsah, fand er, daß sie ihn in einer Falle gefangen hatten. »Die gehen nun dahin und sind stolz
     darauf, daß sie es so gut gemacht haben und ich hier nun, während der ganzen Zeit, daß sie fort sind, über der Predigt brüten
     muß,« dachte er bei sich.
    Aber sein Vater und seine Mutter waren weit davon entfernt, stolz über irgend etwas zu sein; sie waren im Gegenteil ziemlich
     betrübt. Sie waren arme Häuslerleute und hatten nicht viel mehr Boden als einen Gartenfleck. In der ersten Zeit, als sie das
     Haus hatten, konnten sie nur ein Schwein und ein paar Hühner halten, aber sie waren selten strebsame und tüchtige Leute, und
     jetzt hatten sie sowohl Kühe als auch Gänse. Es war vorzüglich vorwärts gegangen mit ihnen, und hätten sie nicht an den Sohn
     denken müssen, so wären sie an diesem schönen Sonntagmorgen froh und vergnügt zur Kirche gegangen. Der Vater klagte darüber,
     daß er faul und nachlässig sei, in der Schule hatte er nichts getan, und er war so untüchtig, daß er ihn nur mit Not und Mühe
     die Gänse hüten lassen konnte. Und die Mutter bestritt keineswegs, daß das wahr sei, aber sie war am meisten betrübt darüber,
     daß er ein so wilder und arger Bube war, hart gegen Tiere und boshaft gegen Menschen, »Wenn doch Gott ihn beugen und ihm einen
     andern Sinn geben wollte,« sagte die Mutter. »Sonst wird er ein Unglück für sich selbst und für uns.«
    Der Junge stand lange da und überlegte, ob er die Predigt lesen solle oder nicht. Aber dann wurde ermit sich selbst einig, daß es diesmal am besten sein würde, wenn er gehorchte. Er setzte sich in den Pfarrhauslehnstuhl und
     fing an zu lesen. Als er aber eine Weile die Wörter halblaut hergeplappert hatte, war er nahe daran, über sein eigenes Gemurmel
     einzuschlafen, und er merkte, daß er anfing einzunicken.
    Draußen war das schönste Frühlingswetter. Man war zwar nicht weiter im Jahr als am zwanzigsten März, aber der Junge wohnte
     im
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