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Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Erster Teil

Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Erster Teil

Titel: Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Erster Teil
Autoren: Selma Lagerloef
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West-Vemmenhöger Kirchspiel, weit unten im südlichen Schonen, und da war der Frühling schon im vollen Gange. Es war noch
     nicht grün, aber es war frisch und im Begriff, Knospen zu treiben. Da war Wasser in allen Gräben, und der Huflattich stand
     an den Grabenrändern in Blüte. All das kleine Krautwerk, das auf den Steinwällen wuchs, war braun und blank. Die Buchenwälder
     in der Ferne standen gleichsam da und schwollen und wurden mit jedem Augenblick dichter. Der Himmel war hoch und hellblau.
     Die Haustür stand angelehnt, so daß man in der Stube hören konnte, wie die Lerche sang. Die Hühner und Gänse gingen draußen
     im Hofe, und die Kühe, die die Frühlingsluft bis ganz in ihre Stände hinein spürten, gaben von Zeit zu Zeit ein Brüllen von
     sich.
    Der Junge las und nickte und kämpfte mit dem Schlaf. »Nein, ich will nicht einschlafen,« dachte er, »denn dann komme ich heute
     vormittag nicht durch dies hier hindurch.«
    Aber wie es nun kommen mochte, er schlief dennoch ein.
    Er wußte nicht, ob er eine kurze oder eine lange Zeit geschlafen hatte, aber er erwachte davon, daß er ein schwaches Geräusch
     hinter sich hörte.
    Auf der Fensterbank, gerade vor dem Jungen, stand ein kleiner Spiegel, und darin konnte man beinahe die ganze Stube sehen.
     In demselben Augenblick, als nun der Junge den Kopf erhob, fiel sein Blick in den Spiegel, und da sah er, daß der Deckel von
     der Mutter Truhe geöffnet war.
    Die Mutter hatte nämlich eine große, schwere, eisenbeschlagene eichene Truhe, die niemand außer ihr selber öffnen durfte.
     Dort bewahrte sie all das auf, was sie von ihrer Mutter geerbt hatte, und womit sie am allereigensten war. Da lagen ein paar
     alte Bauerntrachten aus rotem Tuch mit kurzem Leibchen und Faltenrock und perlengesticktem Brusttuch. Da waren gesteifte weiße
     Kopftücher und schwere silberne Spangen und silberne Ketten. Heutzutage wollten die Leute nicht mit dergleichen Sachen gehen,
     und die Mutter hatte oft daran gedacht, sich von dem alten Kram zu trennen, aber dann hatte sie es doch nicht übers Herz bringen
     können.
    Nun sah der Junge ganz deutlich im Spiegel, daß der Deckel der Truhe offenstand. Er konnte nicht begreifen, wie das zugegangen
     war, denn die Mutter hatte die Truhe geschlossen, ehe sie fortging. Es sah der Mutter wahrlich nicht ähnlich, sie offenstehen
     zu lassen, wenn er allein zu Hause war.
    Ihm wurde ganz unheimlich zumute. Er war bange, daß sich ein Dieb ins Haus geschlichen hatte. Er wagtenicht, sich zu rühren, sondern saß ganz still da und starrte in den Spiegel hinein.
    Während er so dasaß und wartete, daß sich der Dieb zeigen würde, grübelte er darüber nach, was für ein schwarzer Schatten
     das wohl sein könne, der über den Rand der Truhe fiel. Er sah und sah und wollte seinen eigenen Augen nicht trauen. Aber das,
     was zu Anfang wie ein Schatten aussah, wurde immer deutlicher, und er entdeckte bald, daß es etwas Wirkliches war. Es war
     weder mehr noch weniger als ein Kobold, der rittlings auf dem Rande der Truhe saß.
    Der Junge hatte freilich von Kobolden reden hören, aber er hatte sich nie gedacht, daß sie so klein seien. Der, der da auf
     der Truhe saß, war nicht höher als eine Handbreit. Sein Gesicht war alt und runzelig und bartlos, und er hatte einen langen
     schwarzen Rock und Kniehosen an und einen breitkrempigen schwarzen Hut auf dem Kopf. Er war sehr fein und zierlich, mit weißen
     Spitzen am Halse und am Handgelenk, Spangen an den Schuhen und Strumpfbändern mit Rosetten. Er hatte ein gesticktes Brusttuch
     aus der Truhe genommen und saß nun da und betrachtete die altmodische Arbeit mit so großer Andacht, daß er das Erwachen des
     Jungen nicht bemerkt hatte.
    Der Junge war sehr erstaunt, den Kobold zu sehen, aber bange wurde er eigentlich nicht. Man konnte nicht bange vor einem werden,
     der so klein war. Und da nun der Kobold so von dem in Anspruch genommen war, was er vorhatte, daß er weder sah noch hörte,
     so dachte der Junge, es würde ein Spaß sein, ihm einen Streichzu spielen, ihn in die Kiste hinunterzustoßen und den Deckel zuzuschlagen oder etwas Ähnliches.
    Aber der Junge war doch nicht so mutig, daß er den Kobold mit den Händen zu berühren wagte, und er sah sich deswegen in der
     Stube nach etwas um, womit er ihn hinunterstoßen könne. Seine Augen wanderten von der Bettbank nach dem Klapptisch und von
     dem Klapptisch nach dem Feuerherd. Er sah nach den Kochtöpfen und dem
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