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Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Erster Teil

Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Erster Teil

Titel: Niels Holgersens wunderbare Reise mit den Wildgaensen - Erster Teil
Autoren: Selma Lagerloef
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hast,« schrie Goldlilie.
    Mairose war die älteste und klügste von ihnen, und sie war die allerzornigste, »Komm nur her,« sagte sie, »dann will ich dir
     alle die Male heimzahlen, wo du deiner Mutter den Milchhuker weggezogen hast, und alle die Male, wo du ihr ein Bein gestellt
     hast, wenn sie mit dem Milcheimer geschleppt kam, und alle Tränen, die sie hier um dich vergossen hat.«
    Der Junge wollte ihnen sagen, er bereue, daß er schlecht gegen sie gewesen war, und daß er so etwas nie wieder tun wolle,
     wenn sie ihm nur sagen wollten, wo der Kobold sei. Aber die Kühe hörten nicht nach ihm hin. Sie wurden so erregt, daß er bange
     wurde, eine von ihnen könne sich losreißen, und er hielt es für das beste, sich aus dem Kuhstall herauszuschleichen.
    Als er wieder draußen war, befiel ihn eine große Verzagtheit. Er sah ein, daß niemand auf dem Hofe ihm helfen wollte, den
     Kobold zu finden. Und es würde wohl auch nicht viel helfen, wenn er ihn fand.
    Er kroch auf den breiten Steinwall hinauf, der das Grundstück umgab und der mit Dornen und Brombeerranken bewachsen war. Da
     setzte er sich hin, um darüber nachzudenken, wie es werden sollte, wenn er nie wieder ein Mensch würde. Wenn nun der Vater
     und die Mutter aus der Kirche nach Hause kämen, würde große Verwunderung herrschen. Ja, im ganzen Lande würde man sich verwundern,
     und aus Ost-Vemmenhög und aus Torp und aus Skurup würden Leute kommen; aus der ganzen Vemmenhöger Heide würde man kommen,
     um ihn zu sehen. Und vielleicht würden der Vater und die Mutter ihn nach dem Kiriker Markt mitnehmen und ihn für Geld sehen
     lassen.
    Nein, das war schrecklich zu denken. Er wollte nur wünschen, daß ihn nie ein Mensch mehr zu sehen bekam.
    Es war schrecklich, wie unglücklich er war. Niemand in der ganzen Welt war so unglücklich wie er. Er war kein Mensch mehr,
     sondern ein Ungetüm.
    Nach und nach ward es ihm klar, was es hieß, daß er kein Mensch mehr war. Jetzt war er von allem getrennt: er konnte nicht
     mit andern Knaben spielen, er konnte das Haus nicht nach den Eltern übernehmen, und er konnte nun gar kein Mädchen bekommen,
     um sich mit ihr zu verheiraten.
    Er saß da und betrachtete sein Heim. Es war einkleines, weißgetünchtes Fachwerkhaus, das unter dem hohen, schrägen Strohdach wie in die Erde hineingedrückt dalag. Die Nebengebäude
     waren ebenfalls klein, und die Felder waren so schmal, daß ein Pferd nur mit genauer Not darauf umwenden konnte. Aber wie
     klein und ärmlich das Haus auch war, jetzt war es doch zu gut für ihn. Er konnte kein anderes Haus verlangen, als ein Loch
     unter dem Fußboden im Stall.
    Das Wetter war so wunderbar schön. Es sickerte und es sproßte und es zwitscherte rings um ihn her. Er aber saß in tiefem Kummer
     da. Er konnte sich nie wieder über irgend etwas freuen.
    Nie hatte er den Himmel so blau gesehen wie heute. Und Zugvögel kamen dahergesaust. Sie kamen aus dem Ausland und waren über
     die Ostsee gereist, sie waren gerade auf Smygehuk zugesteuert, und jetzt waren sie auf dem Wege gen Norden. Da waren sicher
     viele verschiedene Arten, aber er konnte keine andere erkennen als die wilden Gänse; sie kamen in zwei langen Reihen geflogen,
     die sich in einem Winkel trafen.
    Es waren schon mehrere Scharen von wilden Gänsen vorübergeflogen. Sie flogen hoch oben, aber er konnte sie doch rufen hören:
     »Jetzt geht's in die Berge! Jetzt geht's in die Berge!«
    Als die wilden Gänse die zahmen Gänse sahen, die auf dem Hofe herumwatschelten, senkten sie sich zur Erde herab und riefen:
     Kommt mit! Kommt mit!
    Die zahmen Gänse konnten sich nicht enthalten, einen langen Hals zu machen und zu horchen. Aber sie antworteten ganz vernünftig:
     »Wir haben es gut,so wie wir es haben. Wir haben es gut, so wie wir es haben.«
    Es war, wie gesagt, ein wunderbar schöner Tag mit einer Luft, in der zu fliegen eine wahre Freude sein mußte, so frisch und
     so leicht. Und mit jeder neuen Schar von wilden Gänsen, die vorüberflog, wurden die zahmen Gänse mehr und mehr unruhig. Ein
     paarmal schlugen sie mit den Flügeln, als hätten sie Lust, mitzufliegen. Aber dann sagte immer eine alte Gänsemutter: »Seid
     doch nicht verrückt! Die da oben werden noch frieren und hungern.«
    Einen jungen Gänserich erfaßte eine heftige Reiselust bei all dem Rufen. »Wenn noch eine Schar kommt, fliege ich mit,« sagte
     er.
    Und dann kam eine neue Schar, die ebenso rief wie die andere. Da schrie der junge
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