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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel
Autoren: C Fischer
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Mauervorsprüngen gurrenden Tauben hören konnte, und nach dem letzten kräftigen Regenguss war die Nässe durch sämtliche Ritzen gekrochen. Die Stromspannung schwankte, und wenn er alle Lampen und den Fernseher gleichzeitig einschaltete, sprang die Sicherung heraus.
    Früher war es nicht nötig gewesen, alle Lampen und den Fernseher gleichzeitig einzuschalten.
    Van Leeuwen ging in die Küche. Im Kühlschrank fand er ein paarDosen Ravioli, eine halbe Packung Butter, eine Tüte Mozzarella, geschnittenes Brot und eine Flasche Mineralwasser, aber keinen Wein. Im Licht des offenen Kühlschranks sah er den Pappkarton mit der Aufschrift Montepulciano unter der Spüle und entdeckte darin die letzte Flasche eines guten Jahrgangs. Früher hatte es immer eine angebrochene Flasche im Kühlschrank gegeben, in der ersten Zeit und vor allem in der zweiten, der anderen Zeit. In der dritten gab es keine angebrochene Flasche in der ganzen Wohnung, nur die letzte des guten Jahrgangs, ungeöffnet.
    Plötzlich klingelte das Telefon. Der Apparat stand auf der Kommode im Flur, aber Van Leeuwen blieb, wo er war. Leise, als könnte der Anrufer ihn hören, schloss er die Kühlschranktür. Er verharrte neben dem Kühlschrank und wartete darauf, dass der Apparat zu klingeln aufhörte. Sein Herz schlug schneller. Unvermittelt spürte er eine Schwere in seinem Inneren, einen harten Sog, als hätte er statt eines Magens einen faustgroßen Magneten, der kein Metall anzog, sondern die Vergangenheit – etwas, das einstmals da gewesen und jetzt verloren war.
    Mit einem unwilligen Kopfschütteln ging er zur Fenstertür und öffnete sie. Das Klingeln, viel zu hartnäckig schon, verfolgte ihn. Mit beiden Händen auf das hüfthohe Geländer aus rostigem Schmiedeeisen gestützt, betrachtete er den schwach geröteten Himmel. Endlich verstummte das Telefon. Erst jetzt merkte er, wie heftig er die Brüstung umklammerte; die Eisenbolzen knirschten in ihrer Verankerung. Als er das Geländer losließ, waren seine Finger einen Moment wie taub.
    Der schlimmste Anruf kommt nicht mehr, sagte er sich. Den schlimmsten Anruf hast du schon erhalten, und dagegen ist alles andere nichts. Trotzdem wollte er mit niemandem sprechen, der ihn mitten in der Nacht anrief. Manchmal war es Brigadier Julika Tambur, die wissen wollte, ob er da war und wie es ihm ging. Manchmal war es Ton Gallo, aber nicht so spät. Manchmal wurde einfach aufgelegt, wenn Van Leeuwen abhob, und dann dachte er, es könnte jemand sein, der mit Simone sprechen wollte; der nicht wusste, was mit ihr geschehen war. Und manchmal, in seinenkühnsten Träumen, die an Wahnsinn grenzten, war sie selbst am anderen Ende der Leitung und rief ihn an, um ihm zu sagen, dass alles nur ein Irrtum gewesen war oder ein schlechter Traum. Dass sie noch lebte. Oder dass sie zwar gestorben war, er aber trotzdem mit ihr reden konnte.
    Er schloss die Fenstertür. Das Telefon klingelte nicht noch einmal, und auch sein Handy blieb stumm. Er sah auf seine Armbanduhr. Es war noch immer zu früh, um ins Präsidium zu gehen. Selbst zu Fuß brauchte er nur eine Viertelstunde, und dann war er schon da und konnte trotzdem nichts tun, keine Telefonate führen, keine Berichte lesen, niemanden befragen.
    Er kehrte ins Wohnzimmer zurück, in dem es jetzt anders roch, nach dem stehenden Wasser der Gracht und feuchtem Ulmenlaub. Im Dunkeln setzte er sich auf die Couch. Der Wein fehlte ihm nicht. Als Simone noch bei ihm gewesen war, hatte er jeden Abend getrunken, und später, als sie im Heim, aber noch am Leben gewesen war, hatte er auch viel getrunken, und in der Nacht nach ihrem Tod hatte er sehr stark getrunken, doch seitdem nicht mehr. In den Monaten, die seither vergangen waren, hatte er nicht einen Tropfen angerührt.
    Eine Erinnerung, dachte er; nur eine. Er musste sie sorgfältig auswählen.
    Es war still vor den offenen Fenstern, doch von Weitem drangen die Geräusche der nächtlichen Stadt herbei, die niemals ganz schlief, nicht einmal jetzt. Er dachte an den Toten, Gerrit Zuiker, der inzwischen wahrscheinlich im Leichenschauhaus angelangt war und für den es nie mehr Tag werden würde und niemals mehr Nacht. Er fragte sich, ob Zuiker eine Frau gehabt hatte, die jetzt gerade auf ihn wartete, und warum er mit einer Pistole unterwegs gewesen war.
    Als die Gedanken an Gerrit Zuiker nichts mehr halfen, überlegte er, ob eine Renovierung der Wohnung die dritte Zeit leichter machen würde. Er stellte sich vor, wie das Zimmer ohne die
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