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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel
Autoren: C Fischer
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Moment zugegen gewesen wäre, in dem ein Mensch zum Mörder und ein anderer zum Opfer wurde, unwiderruflich? Nein, vor diesem Moment – bevor er seine Arbeit tun musste, bevor er Spuren sicherte, Zeugen befragte, Verdächtige verhörte und den Täter zu überführen versuchte? Wenn er zwei Leben gerettet hätte, einfach nur, indem er zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen wäre?
    Er schaltete die Taschenlampe wieder ein, richtete den Lichtstrahl auf die Aktentasche und drehte sie um, sodass er hineinschauen konnte. Der Geruch von nassem Leder stieg ihm in die Nase. Die Tasche enthielt eine kleine Brotdose aus blauem Plastik, einen gelben Apfel, eine Ausgabe von De Avond! , eine Packung Papiertaschentücher, einen Bibliotheksausweis auf den Namen Gerrit Zuiker und eine Pistole. Die Pistole war eine kurzläufige Walther P 38, Kaliber 9 mm, und sie bereicherte das Bild um einen neuen Aspekt: das Unerwartete.
    Aus Richtung des Achterburgwalls drangen Stimmen in die Gasse. Etwas später huschten die Lichtkegel starker Lampen über die Mauern und das Pflaster, und der Commissaris richtete sich wieder auf, um die anrückenden Beamten zu der Leiche zu dirigieren. Ein Hoofdagent in Uniform leuchtete ihm ins Gesicht und fragte:
    »Haben Sie die Leiche gefunden?«
    »Ja«, bestätigte Van Leeuwen.
    »Ihr Name?«
    »Commissaris van Leeuwen.«
    Der Hoofdagent ließ rasch die Taschenlampe sinken, bis der Lichtstrahl auf seine Schuhspitzen wies. »Entschuldigen Sie, Mijnheer, ich habe Sie nicht erkannt. Ich bin Hoofdagent Jan Brugman. Man hat mir nicht gesagt, dass die Meldung von Ihnen stammt.« Seine Stimme klang überrascht, und als jetzt die ersten Scheinwerfer aufflammten, entdeckte der Commissaris auch in Brugmans Augen den Ausdruck . Es war ein Ausdruck, den er in letzter Zeit schon ein paar Mal in den Augen anderer Polizisten bemerkt hatte und der zu sagen schien: Ach, Sie sind das! Commissaris van Leeuwen, der nachts auf dem Bahnhof schläft, wie man hört – also, ich finde, es wirft ein schlechtes Licht auf die ganze Polizei, verstehen Sie, wenn ein ranghoher Offizier so wenig Haltung aufbringt, egal, wie die Umstände sein mögen.
    Der Ausdruck erlosch sofort, als Brugman merkte, wie der Commissaris ihn ansah. »Wahrscheinlich ein Herzanfall«, meinte der Hoofdagent. »Oder Drogen. Vielleicht auch eine Schlägerei. Der Tote: unbekannt, männlich, weiß – das Übliche. Haben Sie ihn angefasst oder irgendetwas verändert?«
    »Ich habe nur das Bargeld genommen«, brummte Van Leeuwen und erntete genau den verständnislosen Blick, mit dem er gerechnet hatte. Und ich schlafe nicht jede Nacht im Bahnhof , fügte er in Gedanken hinzu.
    Er blickte zu der inzwischen von mehreren Scheinwerfern ausgeleuchteten Leiche hinüber, die in dem kalten Licht nicht im Geringsten mehr aussah wie ein Mensch, sondern wie ein schlecht koloriertes Demonstrationsobjekt für die Fähigkeiten des Technischen Dienstes und des Leichenbeschauers. Das Blut wirkte schwarz, die Haut grau, das Gelb anders als Gelb und auch das Braun nicht mehr wie Braun.
    An der Mündung der Gasse hielt ein Sanitätsfahrzeug, das ohne Sirene, aber mit eingeschaltetem Blaulicht gekommen war. Die Sanitäter stiegen aus, und das blaue Licht spiegelte sich auf dem nassen Pflaster und dem Stamm der Ulme am Ufer. Die Männer und Frauen von der Spurensicherung drängten sich in ihrenweißen Overalls zwischen den Hausmauern, bemüht, sich nicht gegenseitig auf die Füße zu treten. Einer der Männer fotografierte die Leiche aus allen Blickwinkeln, von Weitem und von Nahem und von ganz nah und dann nur einzelne Teile, das Gesicht, die Füße, die Sandalen, die Hände, die Uhr. Als es an der Leiche nichts mehr zu fotografieren gab, fotografierte er die Aktentasche und die Blutspritzer auf dem Pflaster, den Urinfleck an der Mauer, die Müllsäcke und die Graffiti neben der Eisentür. Eine Frau stellte kleine Kärtchen mit Nummern neben allen Gegenständen auf, die vielleicht mit dem Tod des Opfers zu tun haben konnten, und der Fotograf fotografierte auch diese Gegenstände. Danach fotografierte er einen anderen Mann, der mit einem Maßband die Lage der Leiche bestimmte und die Entfernung zu den beiden Mauern, der Tür, den Müllsäcken und den nummerierten Gegenständen ausmaß und notierte.
    Die Frau, die inzwischen Kärtchen neben allem außer Van Leeuwens Füßen aufgestellt hatte, streifte zwei Plastikbeutel über die Hände des Toten und verschloss sie mit Klebeband,
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