Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel
Autoren: C Fischer
Vom Netzwerk:
wartete. Sie hieß noch Simone, sie war weiter mit ihm verheiratet, aber sie erinnerte sich nicht mehr daran, wie er hieß, welche Rolle er in ihrem Leben spielte. Es hatte an seiner Liebe nichts geändert, dass sie ihn jeden Tag ein bisschen mehr zurückließ, nicht an der Tiefe, nur an der Art, wie er sie zeigen konnte.
    Jetzt, nachdem sie gestorben war, lebte er in einer dritten Zeit. In dieser dritten Zeit bog er in seine Straße, er ging auf das Haus zu, er stieg die Treppe zu seiner Wohnung hinauf, er betrat die Wohnung, und einen Moment lang war ihm, als rutschte er von einer Welt in eine andere, von einer äußeren in eine innere. Es war eine Welt in ihm, in der es auch nur ihn und seine Frau gab. Er konntein ihr umhergehen, und sie sah aus wie die, aus der er gekommen war, aber sie schien viel älter zu sein. Älter und trauriger. Sein Herz wurde klein; es zog sich zusammen, und sein Blut erbleichte in den Adern. Genauso kam es ihm vor – als hätte er kein Rot mehr im Blut.
    Auf der Fußmatte vor der Wohnungstür fand er eine Zeitung. Er hob sie auf. Es handelte sich um ein Probeexemplar einer Tageszeitung, die er nicht abonniert hatte, De Avond! Er betrat die Diele und legte den Schlüsselbund in die Keramikschale auf der Kommode neben der Eingangstür und die Zeitung auf den Schirmständer. Er hatte in der Wohnung alles so gelassen, wie es an dem Tag gewesen war, an dem er Simone ins Heim bringen musste. Er hatte ein wenig aufgeräumt, regelmäßig geputzt, aber nichts verändert. Die Gemälde, die sie von Sims Onkel geerbt hatten, hingen noch an den Wänden. Ihr Lieblingssessel stand weiter dort, wo er immer gestanden hatte. Auf den Fensterbänken gab es die Schüsseln und Teller, in denen sich ihre Sammlung nutzloser Dinge befand: ein vertrockneter Seestern, Kastanien, Kieselsteine, Muscheln, ein Tannenzapfen – die Schätze, zu denen sie ihn Abend für Abend geführt hatte, wenn er heimgekommen war.
    In der dritten Zeit gab es eine feste Regel: nicht mehr als eine Erinnerung pro Abend, wenn er hier war. Eine war gestattet, nur eine, dann musste er an etwas anderes denken.
    Er hängte den Trenchcoat an den Garderobenständer und ging zu den Wohnzimmerfenstern, die auf die Egelantiersgracht schauten. Sein Kopf summte vor Müdigkeit. Er öffnete zwei der drei Fenster, denn die Luft roch muffig. Es war noch dunkel. Er sah hinunter auf die Ulmen und das schwarze Wasser der Gracht im schwachen Schein der Straßenlaternen.
    Ohne das Licht einzuschalten, ging er ins Schlafzimmer, wo er sich auszog. Er legte die Sachen, die er getragen hatte, auf das gemachte Bett, dann ging er zum Kleiderschrank und suchte frische Unterwäsche, saubere Strümpfe und ein gebügeltes Hemd heraus. Er ging ins Badezimmer, wo er sich duschte und rasierte. Er sah sein Bild im Spiegel, aber so, als sähe er es gar nicht mit seineneigenen Augen oder als wäre ihm der Mann, der seinen Blick erwiderte, nur vage vertraut: eine Phantomzeichnung.
    Er kannte den Mann im Spiegel, er konnte ihn beschreiben: die grauen Augen; das Haar, ehemals braun, jetzt ebenfalls grau, an den Schläfen und im Nacken zumindest; das kräftige Kinn mit dem kleinen Grübchen und die Nase, die schon gebrochen gewirkt hatte, bevor sie wirklich gebrochen worden war – bei einem Sturz vom Fahrrad, nicht in Ausübung seines Dienstes. Aber während er diesen Mann im Spiegel betrachtete, verlor er selbst das vage Vertraute und wurde vor seinen Augen zu jemand, den er weniger und weniger kannte.
    Er hatte gewusst, wer er war, wenn er Simone ansah.
    Er schaltete das Licht im Bad aus und ging zurück ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Es wurde schon Herbst, aber die Tage waren noch immer warm. Deswegen hatte er ein Hemd mit kurzen Ärmeln gewählt, hellblau, und dazu wieder den beigen Leinenanzug, den er am liebsten mochte. Er entschied sich für einen hellbraunen Gürtel und braune Halbschuhe, bequem, aber nicht ausgetreten. Es war wichtig, dass er auf sich achtete, sich nicht gehen ließ.
    Mit der Wohnung sah es anders aus: Sie hatte sich gehen lassen, oder er hatte gestattet, dass sie sich gehen ließ, anfangs unbemerkt, weil sein Augenmerk immer Wichtigerem galt. In der Küche blätterte ein wenig Putz von den Wänden, im Bad kündeten ockerbraune Flecken an der Decke von lange zurückliegenden Rohrbrüchen. An den Türrahmen zum Flur zog man sich Splitter ein, wenn man nicht aufpasste. Die Fensterrahmen im Schlafzimmer saßen locker, sodass man die auf den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher