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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel
Autoren: C Fischer
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immer wieder zurück? Er verstand einfach nicht, warum.
    Sie waren so zynisch, so höhnisch, schon in ihrem Alter. Sie verachteten ihn, wie Margriet ihn verachtete, und Pieter. Ganz bestimmt verachtete sogar Pieter ihn, auch wenn er sich bemühte, es nicht zu zeigen. Es war immer dasselbe: Am Anfang mochten die Menschen ihn, weil er sanft war oder klug oder hilfsbereit oder weil er so viel wusste. Und dann, irgendwann, fingen sie an, ihn zu verachten, ihn auszulachen. Aber geschlagen hatte ihn bisher noch niemand, außer dem Jungen.
    Der Mann blinzelte hinter dem gesprungenen Brillenglas. Er spürte den Schlag noch immer auf seiner Wange – nicht mehr scharf wie im ersten Moment, eher wie einen tauben Druck. Er wünschte, er wäre tot. Es war ein Wunsch, den er jeden Morgen hatte, gleich nach dem Aufwachen, noch bevor er richtig wach war. Ich wünschte, ich wäre tot . Trotzdem musste er leben, er zwang sich dazu, und in Margriets Gesicht sah er, dass sie ihn auch deswegen verachtete. Er stellte sich vor, sie könnte ihn jetzt sehen, hier in diesem Moment. Er stellte sich ihr Gesicht vor, die Verachtung darin.
    Ich ersticke , dachte er. Er sah sie vor sich auf dem Boden liegen, umgeben von den Splittern, den spitzen Scherben; er sah das Blut. Ich ersticke!
    Der Mann stolperte. Seine Füße fingen an wehzutun. Auch seine Arme schmerzten, von der Tasche, die er so fest gegen die Brust presste, und von dem Gewicht der Pistole. Das Gedränge um ihn wurde dichter. Immer mehr Menschen bevölkerten die schmale Straße zwischen dem Wasser und den Eingängen der Sexclubs: Japaner mit Schirmkappen und Windjacken, ein schnatternder Pulk, der dem hochgereckten weißen Schirm in der Faust einer Reiseführerin folgte. Amerikanische Ehepaare mit luftgepolsterten Laufschuhen und diebstahlsicheren Gürteln von Abercrombie & Fitch. Junge Engländer mit geröteten Augen und Bierflaschen in den Händen. Bärtige Rucksacktouristen aus Frankreich und Deutschland mit Zottelhaaren. Afrikaner. Missmutige Surinamer in Jogginganzügen. Aber auch elegante Inder, Chinesen in schwarzen Anzügen, weißen Seidenhemden und auf Hochglanz polierten Schuhen.
    Über die Gesichter huschte das Echo der flackernden Neonsilben an den Backsteinfassaden. In der Luft schwebte der Geruch von frittierten Muscheln, gebratenen Hamburgern, verschüttetem Bier und brennendem Hasch. Hinter den Fenstern standen die grell geschminkten, fast nackten Frauen zum Greifen nah an den Scheiben, die Hände auf den Hüften oder an den Brüsten. Sie warfen die Lippen auf, befeuchteten sie mit der Zungenspitze, winkten den vorbeistreifenden Männern. Manche Frauen lächelten, andere küssten die violette Luft, aber die Augen blieben teilnahmslos, schauten ins Nichts.
    Der Junge blieb wieder stehen, und der Mann mit der Pistole in der Aktentasche verharrte ebenfalls. Schwer atmend lehnte er sich gegen eine Hausmauer. Er stellte die Tasche zwischen die Beine, bevor er die Brille abnahm und die Gläser mit dem Hemdzipfel abwischte. Das Leukoplastband, mit dem er den linken Bügel geflickt hatte, war nass geworden, aber noch hielt das Flickwerk. Ich muss es bald tun, dachte er; wenn ich es nicht bald tue, werde ich den Mut nicht noch einmal aufbringen. Als er die Brille wieder aufsetzte, sah er den Fischreiher.
    Der große grau-weiße Vogel kauerte in der Krone einer Ulmeauf einem dicken Ast. Reglos saß er da vor dem blauen Himmel. Die großen Flügel waren dicht an den Leib gelegt, der lange Schnabel ruhte am Brustgefieder, die Augen bewegten sich nicht, auch nicht, wenn der aufkommende Wind in das Laub der Ulme fuhr. Nichts schien ihn zu kümmern – die flackernden Lichter, die lauten Stimmen der Anreißer, die dröhnende Musik, Rock, Reggae, Salsa, nichts davon –, er blieb unberührt.
    Der Mann dachte an den Vorfall – so nannte er es bei sich, den Vorfall – auf dem Schulhof heute Nachmittag, die Hand des Jungen, die hochflog, ein Blitzen vor seinen Augen, er glaubte, es sei eine Messerklinge, aber es war nur das Metallgehäuse einer Armbanduhr. Trotzdem, er hatte den Kopf zurückgerissen, hatte ausweichen wollen, und plötzlich hörte er das Gelächter überall auf dem Hof, und als er merkte, dass er gemeint war, dass das Lachen ihm galt, da wusste er, dass er es heute tun musste.
    Jetzt fand er den Jungen wieder, fast an der Brücke, am Rand seines Blickfelds. Er drängte sich durch die Menge, um ihn im Gewühl nicht zu
     verlieren. Er spürte die Tasche in seinen Armen
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