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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel
Autoren: C Fischer
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presste die Lippen zusammen. Er gab einen weiteren knurrenden Laut von sich. »Alle denken, es kein Lüge, sondern Wahrheit. Dass sie hat getan, statt nicht getan. Alle sehen Wu an und denken: Das ist Zheng Wu, den seine Frau hat betrogen mit Cousin. Ich sehe in ihre Augen, sehe meine Schmach und Schande!«
    »Ist das die jahrtausendealte Weisheit Chinas – Scham und Schande, verlorene Ehre, verlorene Gesichter?!«, brüllte Van Leeuwen; er fand den inneren Knopf nicht, mit dem er seine Lautstärke regulieren konnte. » Ailing hat Sie geliebt, und Sie haben sie geliebt, und trotzdem töten Sie sie! Dabei hat sie Sie nicht mal betrogen! Aber meine Frau – meine Frau musste sterben, obwohl ich wollte, dass sie lebt und bei mir ist …!«
    »Ja«, sagte der Chinese, »ja, Zheng Wu weiß und bedauert neue Unannehmlichkeiten für Commissaris.« Seine Augen waren flach wie schwarze Nagelköpfe, die sein ausgemergeltes Gesicht am Schädel festhielten. Zwei scharfe Linien zogen sich um seinen Mund und die dunklen, wie in die olivgelbe Haut gebrannten Nasenlöcher.
    »Sie wissen gar nichts, Mijnheer Wu!« Der Commissaris hätte ihn am liebsten aus seinem Rollstuhl gezogen und geschüttelt. »Warum sind Sie nicht woandershin ausgewandert – nach Amerika, beispielsweise? Warum mussten Sie zu uns kommen? Haben Sie nie davon gehört, was da steht – im Hafen von New York – auf dem Sockel der Freiheitsstatue – über Menschen wie Sie!? Schickt uns eure Müden und Armen, steht da, das armselige Strandgut eurer überfüllten Küsten, schickt uns die Heimatlosen, die vom Sturm Gebeutelten.«
    Sein Blick kehrte zu der erdrosselten jungen Frau auf dem Boden zurück. »Aber schickt uns bloß nicht eure Mörder«, fuhr er leiser fort, »die nicht! Die schickt ihr besser nach Amsterdam …«
    Danach sagte er nichts mehr. Er setzte sich auf das Bett, vor dem Ailing lag. Er sah den Chinesen an, und der Chinese sah ihn an, bis sie einander in der Dunkelheit nicht mehr erkennen konnten. Van Leeuwen dachte an Sim und daran, dass er weder Scham noch Schande verspürt hatte. Wenn überhaupt, dann war ihre Affäre eine Wunde gewesen, und selbst diese Wunde war nichts im Vergleich zu der, die Sims Tod in seinem Leben hinterlassen hatte.
    Aber eines Tages würde auch diese Wunde anfangen, sich zu schließen, wie alle Wunden, und nichts würde mehr an sie erinnern außer einer unsichtbaren Narbe auf seiner Seele. Unter dieser Narbe verschlossen läge dann alles, was ihre Liebe so innig und so tief gemacht hatte, Zärtlichkeit und Leid und Lust und Zufriedenheit, die schönen Tage und die schlechten. Hin und wieder würde er mit dem Finger der Erinnerung darüberstreichen und daran denken, was sie verursacht hatte, aber der Schmerz würde nicht wiederkehren und ebenso wenig das Glück, aus dem er mit dieser Wunde vertrieben worden war.
    So wird es sein, dachte er, und damit musst du dann leben. Nach einiger Zeit, in der weder der Chinese noch er gesprochen hatten, nahm er sein Handy und rief einen Streifenwagen.

E PILOG
    In dieser Nacht saß der Commissaris an seinem Schreibtisch, und vor ihm lag eine dünne Mappe aus safrangelbem Karton, Die Mappe der unerledigten Dinge , wie er sie bei sich nannte. Er knipste die Schreibtischlampe an. Er klappte die dünne, unbeschriftete Mappe auf. Er nahm ein Röntgenbild heraus und hielt es gegen das Licht, wie er es früher, als Sim noch lebte, oft getan hatte. Als könnte er ganz allein durch Betrachten dieser farbigen Tomogramme ihre Heilung bewirken. Am Rand der Aufnahme stand nur eine Nummer, aber er wusste, es war der Garten ihrer Erinnerungen, der von Bild zu Bild mehr versteinerte.
    Unter den Tomogrammen lag ein Kuvert mit ihrem Testament. Er hatte es noch nicht geöffnet. Da lagen auch all die Briefe, die er ihr in den Wochen nach ihrem Tod geschrieben hatte, nachts, wenn er nicht hatte schlafen können. Und ganz hinten in der Mappe lag ein Polaroid, und als er es entdeckte, dachte er, eine weitere unerledigte Sache .
    Das Foto zeigte einen lächelnden jungen Mann: sonnengebräunt, mit schwarzem Haar, schön auf die pomadige Art eines Stummfilmstars – Sandro, der Liebhaber seiner Frau, aber im Grunde gar nicht ihr Typ. Hinter dem unschuldig wirkenden Lächeln lauerte Vulgarität, vielleicht sogar Boshaftigkeit. Wieder hatte Van Leeuwen das Gefühl, den Mann schon einmal gesehen zu haben, vor langer Zeit, und wieder wusste er nicht, wo, bei welcher Gelegenheit.
    Neben dem Kopf des Mannes ragte
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