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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel
Autoren: C Fischer
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sicher, das wirst du mir gleich erklären.«
    »Bei allem, was er sagte, hatte ich das Gefühl, als drehte sich etwas in seinem Verstand zu schnell«, meinte Van Leeuwen. »Früher, als man noch Schallplatten gehört hat, gab es doch drei Geschwindigkeiten an den Plattenspielern – Singles, die man mit 45 Umdrehungen hören musste, LP s, für die 33 die richtige Einstellung war, und manche hatten noch 78. Das war die höchste Umdrehungszahl für ganz alte Schellacks. Jedenfalls, wenn man eine Langspielplatte, die man mit 33 hören sollte, mit 78 abspielte, hörte man nur ein quietschendes, hohes, rasend schnelles …«
    »Ich bin alt genug, um zu wissen, wovon du sprichst«, warf Doktor Menardi ein.
    »Gut, dann stell dir vor, du hörst die Matthäus-Passion mit 78 Umdrehungen statt mit 33 – es ist zwar immer noch Musik von Bach, aber niemand kann sie mehr verstehen. So klang das, was Jacobszoon gesagt hat. Du hast dauernd nach einem Knopf gesucht, mit dem man dafür sorgen konnte, dass es verständlich wurde. Kennst du Lovecraft?«
    »Den Schriftsteller?«
    »Ja, den hat er zitiert: Ein Fremder bin ich auf dieser Welt und unter denen, die Menschen sind . Bei Lovecraft hieß es, in diesem Jahrhundert , aber er hat daraus auf dieser Welt gemacht. Das war noch mit das Vernünftigste.«
    »In der Zeitung haben Sie es so dargestellt, dass Van der Meer sein letztes Opfer war. Streng genommen stimmt das aber doch nicht, oder?«
    »Nein, streng genommen sollte er selbst sein eigenes letztes Opfer werden – wenn es nach Van der Meer gegangen wäre. Dann hätte man ihn gefunden, erstickt mit einer Plastiktüte, und niemand hätte an einem Selbstmord gezweifelt. Die Tüte und dasKlebeband, mit denen Van der Meer ihn töten wollte, lagen noch auf dem Boden. Ich glaube, Jacobszoon war unter anderem deswegen so verstört, als ich kam, weil er festgestellt hatte, dass erstickt zu werden, gar kein schöner Tod ist. Und dass er leben wollte! Dass er um sein Leben gekämpft hat, so heftig, dass Van der Meers Schädel bei diesem Kampf an seiner Bettkante zersprungen ist wie ein rohes Ei.«
    Doktor Menardi sagte: »Jedes Jahr am sechsundzwanzigsten September und am dritten Oktober wurde demnach etwas in ihm, das auch die Matthäus-Passion schneller spielte, zu Maurits Scheffer. Im Grunde wollte er immer nur sich selbst töten, aber es waren die anderen, die sterben mussten …« Sie hielt inne und runzelte die Stirn. »Van der Meer hat das erkannt. Er war es, der den Knopf von 33 auf 78 gestellt hat.«
    »Am Anfang«, pflichtete Van Leeuwen ihr bei. »Aber nachdem die Passion lang genug auf 78 gelaufen war, hielt Jacobszoons Verstand das für die richtige Umdrehungszahl.«
    »Was für eine Verschwendung, was für ein schrecklicher Irrweg!«, murmelte sie leise. »Ich habe seine Sendung ein paar Mal gesehen. Es war ihm wirklich ernst mit seiner Anteilnahme, und oft hat er genau das Richtige gesagt, das, was ich auch geraten hätte.«
    Van Leeuwen sagte: »Aber du hättest dich nicht außerhalb der Sendung oder deiner Kolumne mit den Anrufern und Briefeschreibern getroffen, um zu sehen, wie tief ihr Leid war. Und wenn du das getan hättest, dann, um sie zu therapieren, zu heilen. Du hättest sie nicht von morgens bis abends beobachtet, du wärst ihnen nicht nachgegangen, um ihr Leben genau unter die Lupe zu nehmen – ihr Haus, ihre Wohnung, ihre Familie –, um zu sehen, wie ernst es ihnen wirklich war, mit dem Wunsch zu sterben. Du hättest sie nicht erlöst, indem du sie tötest.«
    »Ich wüsste gern, nach welchen Kriterien er seine Entscheidung letztendlich gefällt hat«, meinte Feline Menardi. »Stört es dich nicht, dass auch jetzt noch so vieles unklar bleibt, so viele Fragen offen sind, auf die wir wahrscheinlich nie eine Antwort erhalten werden?«
    Wahrscheinlich gibt es noch mehr. Noch viel, viel mehr.
    »Diese Fragen gibt es immer«, sagte Van Leeuwen. »Nach jedem Fall.«
    Feline zog eine Augenbraue hoch, was ihr Gesicht in das eines entzückenden Kobolds verwandelte. »Du meinst, das ganze Leben ist ein Geheimnis, und Gott existiert wahrscheinlich gar nicht, so in der Art?«
    »Ja«, antwortete Van Leeuwen. »So in der Art.«
    Feline saß im Schneidersitz auf der Decke, und jetzt schloss sie die Augen und stützte sich nach hinten mit den Armen ab, den Kopf in den Nacken gelegt, das Gesicht nach oben gereckt. Ihre Haut wirkte in der Sonne heller. Nach ein paar Minuten öffnete sie den Knopf ihres Kleides. An ihren
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