Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel
Autoren: C Fischer
Vom Netzwerk:
gehören? Wie wäre es, Doktor Jacobszoon, wenn Sie rosa Wimpel und gelbe Sterne verteilen würden? Wie wäre es mit ein bisschen vorgezogener Selektion, ein bisschen Zyklon-B-Gas, einer Rampe vor Zügen mit Viehwaggons?!«
    Im Raum herrschte tiefe Stille, nur der Regen, der gegen die Fenster schlug, war zu hören. Jacobszoon stand wie gebannt an der Tür, so reglos wie der Tote auf dem Boden. Dann schüttelte er leicht den Kopf und hob eine Hand, eine vergeblich wirkende Geste, als wollte er etwas aufhalten, das sich nicht aufhalten ließ. Als sähe er Fetzen von seiner Seele lautlos davonfliegen wie Konfetti.
    »Ich wusste immer, dass dieser Moment eines Tages kommen würde«, sagte er. »Ich wusste, selbst wenn ich genau erklären kann, warum ich so handeln musste – genau so und nicht anders –, würde man mich trotzdem für einen Wahnsinnigen halten. Aber ich bin nicht wahnsinnig, falls Sie das denken. Ich gehe nicht in den Park, um einem Schwan den Kopf abzubeißen und sein Blut zu trinken. Ich bin keiner von denen, die den Menschen auf Fotos die Augen ausstechen oder Geige spielend auf einem Berg von Leichen sitzen. Immer wenn ich jemand seinen Wunsch erfüllt hatte, wenn ich die Tüte von seinem Kopf entfernt habe, um den Frieden seines Anblicks nicht zu stören … wenn ich noch einen letzten Blick auf sein lebloses, friedliches Gesicht warf, empfand ich eine tiefe Trauer, als wäre gerade jemand gestorben, der mir sehr nahestand. Manchmal fragte ich mich nämlich, ob außer mir überhaupt noch irgendjemand auf der ganzen Welt um ihn oder sie trauerte. Maurits Scheffer, wer außer mir trauerte um ihn? Conrad Mueller, wer außer mir trauerte um ihn? Heleen Soeteman, wer trauerte um sie, außer mir? Um ihr Leben, nicht um ihren Tod? Ich sah sie an und dachte, das könntest du sein, der da liegt.«
    Er ließ die Hand wieder sinken. Jetzt schien er doch zu frösteln. »Ich brauchte mich bloß an meinen Vater zu erinnern, wie er nachts auf meiner Bettkante saß. Da waren nur wir beide, im Dunkeln, und ich konnte ihn über mir aufragen sehen, die große Gestalt mit einem bleichen Gespenstergesicht, seine weit aufgerissenen Augen in den schwarzen Höhlen, mit denen er mich ansah … mit denen er durch mich hindurchsah auf das Baby, auf Maurits … Es war so schrecklich, so entsetzlich, ihn so zu erleben. Ich musste etwas tun, ich musste dem ein Ende bereiten – es kam einfach über mich. So war es damals gewesen, und so war es immer wieder.«
    Sein Gesicht war selbst zu einem Gespenstergesicht geworden, gleichzeitig aber auch zu dem eines Kindes, eines verwirrten, frierenden Kindes, das sich verlaufen hatte und auf seinem Irrweg dem Tod begegnet war. »Er hat mich geliebt«, sagte er. »Sie haben mich alle geliebt.«
    »Aber Sie konnten nicht alle lieben«, erwiderte derCommissaris. »Sie erstickten ihre Babys, weil Sie sie nicht alle lieben konnten, genau wie Sara Scheffer«, fügte er hinzu.
    Jacobszoon zuckte zusammen, als hätte er einen Stoß erhalten, plötzlich und unerwartet. Er griff nach der Wand und suchte Halt. Langsam rutschte er daran herunter und kauerte sich zusammen, die Arme um die Knie geschlungen. Für eine Sekunde schien er sein eigenes Leben so zu sehen, wie es wirklich gewesen war, im grellen Licht jäher Erleuchtung. Aber nur für einen Augenblick. Ein Ächzen entfuhr ihm. Sein Körper war plötzlich schweißbedeckt. Er starrte auf Klaas van der Meers Leiche vor seinen nackten Füßen. Auf die Zellophantüte, das Klebeband.
    »Manchmal – manchmal prasseln Millionen kleiner Körner auf mein Gesicht«, murmelte er, »Millionen und Milliarden schwarzer, feuchter, winziger Krumen drücken auf mein Gesicht, pressen es nach innen. Sie dringen in meine Ohren, unter die Lider meiner Augen, in die Nase. Sie rieseln auf mich herab, es wird immer dunkler, ich kann nichts mehr sehen, ich kriege keine Luft! Ich reiße den Mund auf, und die Erde presst mir die Zunge an den Gaumen, tief in die Kehle. Bis in die Brust hinunter schlucke und atme ich Erde, und dann passiert etwas Merkwürdiges: Mein Kopf zieht sich zusammen, die Haut, die Augen, die Wangen, die Lippen – alles stülpt sich nach innen, ballt sich wie eine Faust, die in meine Lunge hinabfährt und sie herausreißt, sie reißt die Lungenflügel aus meiner Brust und lässt nichts zurück als ein riesiges schwarzes Loch mit zerfetzten Rändern.«
    »Und das geschieht an Ihren Geburtstagen, am sechsundzwanzigsten September und am dritten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher