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»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

Titel: »Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)
Autoren: Egon Bahr
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TEIL 1 – BERLIN
    Vorlauf
    Wann ich den Namen Willy Brandt zum ersten Mal gehört habe, weiß ich nicht mehr. Wann und wo ich ihn zum ersten Mal gesehen und gesprochen habe, gibt das Gedächtnis nicht mehr her. Aufregend kann die Begegnung nicht gewesen sein. In der unmittelbaren Nachkriegszeit konnte Brandt als Mitglied der norwegischen Militärmission für mich gar nicht auftauchen.
    Im Sommer 1945 hatte mich in Berlin das Vertrauen beeindruckt, mit dem Jakob Kaiser, Vorsitzender der CDU in der sowjetisch besetzten Zone und Berlin, von Plänen erzählte, zusammen mit Karl Arnold in Nordrhein-Westfalen und Josef Müller, dem »Ochsensepp« in München, Adenauer zu entmachten. »Adenauer, dieser Separatist, darf nicht die ganze CDU in die Hand bekommen.« Nun saß er 1949 im ersten Kabinett Adenauers in Bonn, mahnte als Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, die Überwindung der deutschen Teilung nicht zu vergessen, und versuchte, mit dem Arbeitnehmerflügel seiner Partei eine bescheidene Hausmacht zu organisieren.
    Als Korrespondent des RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor) seit 1949 in Bonn, unterhielt ich wie andere Journalisten Kontakte zu führenden Persönlichkeiten der Parteien im Bundestag. In einem Montagskreis, den ich mit Kollegen gegründet hatte, diskutierten wir sehr offen (die versprochene Diskretion hielt) mit den wichtigen Herren – Damen waren politisch noch kaum präsent – aus allen Parteien. Adenauer lud zum Kanzler-Tee ins Palais Schaumburg. In unserem Kreis bezeichneten wir Jakob Kaiser als »Kaiser ohne Reich«, bis 1955 Respekt den achtungsvollen Spott ablöste. Der Minister hatte gegen seinen Kanzler, der mit Paris das Europäische Saarstatut vereinbart hatte, ziemlich offen agitiert und den Wahlkampf gegen das Statut finanziert. Er »gewann«: Mit fast 68 Prozent stimmten die Saarländer für den Beitritt zur Bundesrepublik.
    Bonn zeigte sich als gemütliches Städtchen. Fast entrüstet reagierte die Wirtin, bei der ich ein möbliertes Zimmer mietete, auf meine Frage, ob sie sich nicht freue, dass Bonn nun die provisorische Hauptstadt sei: »Natürlich nicht! Man kann ja nicht einmal mehr über die Straße gehen, ohne sich umsehen zu müssen, ob ein Auto kommt.«
    Aus Berlin kannte ich den Chefredakteur des französisch lizensierten Kurier , Paul Bourdin. Er sympathisierte mit der Neigung des Kanzlers zu Frankreich und glänzte als Sprecher der Bundesregierung. Eines Morgens rief er mich an und berichtete schockiert, er habe Adenauer gestern Abend nach Rhöndorf begleitet. »Es gibt keine Zweifel: Der alte Herr will die Einheit gar nicht.« Ihm bleibe nur der Rücktritt, weil er täglich das Gegenteil verkünden müsse. Nach drei weiteren Wochen artistischer verbaler Verrenkungen trat er zurück. Das wurde ein Schlüsselerlebnis für meine Gegnerschaft zu Adenauer. Mir wurde zunehmend bewusst, dass er und Walter Ulbricht im Grunde kongenial waren. Jeder der beiden wollte seinen Landesteil sichern und sein Gewicht im jeweiligen Lager, ob Ost oder West, erhöhen. Und jeder erwies sich als die in seinem Teilstaat stärkste Persönlichkeit, die die politische Szenerie beherrschte. Das galt im Falle Adenauers auch gegenüber Schumacher.
    Den SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher hatte ich bewundert, als er, noch bevor das Grundgesetz in Kraft trat, das deutsche Gewicht zum Tragen brachte und kühl die Finanzhoheit des Bundes gegen die Alliierten ertrotzte, die Adenauer schon aufgegeben hatte. Nicht auszudenken, wie später der Aufbau der Bundeswehr erfolgt wäre, wenn ihre Finanzierung von der Zustimmung der Länder abhängig gewesen wäre. Ein Staatenbund statt des Bundesstaates: Ohne die von Schumacher erzwungene Finanzhoheit wäre es eine andere Bundesrepublik geworden.
    Schumacher hatte noch eine andere historische Entscheidung bewirkt. Das war bereits 1945 gewesen. In den Westzonen gab es eine vergleichbare Neigung wie im Osten, aus den Fehlern von Weimar zu lernen. Otto Grotewohl rief als Vorsitzender des Zentralausschusses der SPD zum Kampf für die organisatorische Einheit der deutschen Arbeiterklasse auf und hoffte, der erste Mann zu werden, der für Deutsche in Ost und West sprechen würde. Das war zu einem Zeitpunkt, als in den drei Westzonen noch nicht einmal die übergreifende Organisation der SPD genehmigt war. Hier waren zwei Männer mit Führungsanspruch. Nicht zuletzt persönliche Rivalität dürfte dabei mitgespielt haben, dass Schumacher eine einheitliche
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