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»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

Titel: »Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)
Autoren: Egon Bahr
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Dienstpflicht zur Bundeswehr entgehen wollten, reichte nicht, um die Abwanderung nach Westen auszugleichen. Der Senat musste die Statistik etwas manipulieren (was die Statistik ja gewohnt ist), damit die Einwohnerzahl nicht unter die magische Zwei-Millionen-Grenze rutschte. Der aufgeblähte Öffentliche Dienst wurde dadurch nicht entlastet. Wir hatten sehr genau zu rechnen, und die schnippische Bemerkung Helmut Schmidts, die Berliner verstünden nicht den Unterschied zwischen einer Million und einer Milliarde, verletzte nicht nur, weil sie falsch war.
    Der Senat bekam aus Bonn Geld, um Berlin für Besucher aus aller Welt kulturell anziehend zu machen. Shepard Stone, ehemaliger Diplomat, sammelte über die Ford Foundation Spenden für die Freie Universität, die Deutsche Oper und andere kulturelle und wissenschaftliche Einrichtungen der Stadt. Der Komponist Nicolas Nabokov holte als Leiter der Festspiele attraktive Künstler an die Spree. Internationale Stars wurden enthusiastisch empfangen.
    Bei einem Essen im Rahmen der Filmfestspiele war ich Tischherr der amerikanischen Schauspielerin Jane Russell, die mir interessante Einblicke bot. Sehr viel eindrucksvoller war mein Schwarm Marlene Dietrich, die 1960 zum ersten Mal nach dem Krieg ihre Geburtsstadt wiedersah. Es war Brandts Wunsch, dass sie sich im Goldenen Buch der Stadt verewigte. Er empfand große Nähe zu einem Menschen, der wie er den Weg des Widerstands gegangen war. Ich hatte das Glück, mit Marlene eine Viertelstunde allein plaudern zu dürfen, weil Brandt aufgehalten wurde. Ihre Ausstrahlung auf mich wurde nicht geringer, als ich sah, dass die Hände nicht geliftet waren. »Sag mir, wo die Blumen sind« wird mein Evergreen bleiben. Die Ovationen nach ihrem Konzert im Titania-Palast, wo sie dieses Lied auf Deutsch sang, werden ihr gutgetan haben. Dem »verehrten Willy Brandt« dankte sie handschriftlich: »Ihre Marlene Dietrich«.
    *
    Am 10. Mai 1961 wurde ich vom Mitarbeiter zum Berater Brandts. Das Kommuniqué der Frühjahrssitzung der NATO in Oslo enthielt Formulierungen, die bisher unbeweisbare persönliche Befürchtungen zu einer amtlichen westlichen Position machten. Da wurde der Vier-Mächte-Status der Stadt gar nicht mehr erwähnt, sondern – neben dem freien Zugang – »die Lebensfähigkeit der drei Westsektoren« garantiert. Aufgeregt lief ich zu Brandt, legte ihm den Wortlaut vor und erklärte: »Das ist im Grunde eine Einladung an die Sowjets, dass sie mit ihrem Sektor machen können, was sie wollen.« Das Kommuniqué erinnerte an ein Memorandum für die drei Westmächte und Bonn, das der österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky 1960 vom sowjetischen Außenminister Andrei Gromyko erhalten und mich in Wien hatte lesen lassen. Im Kern hatte es das Interesse der Sowjetunion formuliert, die Stabilität »in diesem Raum« herbeizuführen und nötigenfalls einen Friedensvertrag mit der DDR zu schließen. Brandt beschloss, Außenminister von Brentano eine Vier-Mächte-Konferenz vorzuschlagen. Solange verhandelt würde, so die Überlegung, wären einseitige Maßnahmen der östlichen Seite nicht zu erwarten. Brentano lehnte leider ab. Wir waren uns einig, dass jedes Abkommen allein für den Westteil der Stadt die De-facto-Anerkennung der DDR nur noch zu einer Frage der Zeit machen würde.
    Im Schöneberger Rathaus hatten wir im Juni 1961 20 000 und im Juli 30 000 Flüchtlinge registriert. Am Vorabend des Mauerbaus formulierte Willy Brandt in Nürnberg zum Auftakt des Bundestagswahlkampfes unsere Lagebeurteilung: »Heute Abend, am 12. August, wird der 17 000ste Flüchtling dieses Monats in Berlin ankommen. Zum ersten Mal werden wir 2500 Flüchtlinge im Laufe von 24 Stunden aufzunehmen haben. Warum kommen diese Menschen? Welche Angst hat diesen Strom ansteigen lassen? Die Antwort auf diese Frage heißt: weil die Sowjetunion einen Anschlag gegen unser Volk vorbereitet, über dessen Ernst sich die Wenigsten klar sind. Weil die Menschen in der Zone Angst haben, dass die Maschen des Eisernen Vorhangs zementiert werden. Weil sie fürchten, in einem gigantischen Gefängnis eingeschlossen zu werden. Weil sie die brennende Sorge haben, sie könnten vergessen werden, abgeschrieben, geopfert werden auf dem Altar der Gleichgültigkeit und verpasster Chancen.« Die Rede musste genau balanciert werden. Sie durfte weder verharmlosen noch zur Flucht aufrufen.
    13. August 1961
    Als die Krise dann eintrat, lief Brandt zu großer Form auf. In der Nacht nach seinem
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