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»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

Titel: »Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)
Autoren: Egon Bahr
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gegenstandslos wurde.
    Den Inhalt eines Entwurfs gab der Chef vor. Bei der Diskussion des Wortlauts lernte ich, dass der »Regierende« auch ein guter Redakteur geworden wäre, wenn er meine komplizierten Sätze gnadenlos teilte. Eine Plattitüde in einem Redeentwurf, für die ich mich fast schämte, ergänzte er einfach: »Das wird auch so bleiben.« Ausgerechnet dafür gab es den größten Applaus. Bei Manuskripten, die zum Teil mehrfach zwischen unseren Schreibtischen hin- und hergingen, bewies er eine gewinnende Feinfühligkeit, wenn er mit seinem grünen Stift nicht änderte, sondern ein Wort anstrich oder ein Fragezeichen anbrachte. Dann ergab erst ein Gespräch die Endfassung. Aus ungezählten solcher Gespräche erwuchs eine Vertrautheit mit der »Denke« des anderen, mit seinen Motiven, Hoffnungen, Befürchtungen, Absichten, kurz- oder langfristigen Zielen. Brandt gewann die Sicherheit, dass ich nur mit ihm und für ihn arbeitete. Niemand hat diese Partnerschaft besser erfasst als Richard von Weizsäcker, der später einmal sagte: »Willy Brandt und Egon Bahr, das war ein ziemlich einmaliges Zusammenwirken zweier völlig verschiedener Persönlichkeiten. Jeder kam erst mit Hilfe des anderen zur wirksamen Entfaltung seiner eigenen Gaben.«
    Brandt spielte mit dem Gedanken, Anwärter auf das wichtigste Amt im Staat zu werden. Darum bewerben wollte er sich keinesfalls. Albertz und ich waren skeptisch, hielten es für zu früh und die Erfolgsaussichten gegen das Denkmal Adenauer für gering. Als er gefragt wurde – womit er gerechnet hatte –, stimmte er fast erleichtert zu. Für seine »Mafia« in Berlin gab es nur noch die Überlegung, wie das am besten zu bewerkstelligen sei.
    Der Parteitag 1960 in Hannover brachte politische und persönliche Premieren. Zum ersten Mal wählte eine Partei einen »Kanzlerkandidaten«, während der gewählte Vorsitzende, Erich Ollenhauer, im Amt blieb. Klaus Schütz hatte die Idee zollfrei aus den USA mitgebracht, wo er den Wahlkampf des Präsidentschaftskandidaten Kennedy beobachtet hatte.
    In seiner Bewerbungsrede stellte Brandt die Partei in die nationale Tradition und nannte, damals mutig, nebeneinander die Namen Otto von Bismarck und August Bebel, Friedrich Ebert und Gustav Stresemann, Julius Leber und Claus Graf von Stauffenberg, Ernst Reuter und Theodor Heuss. Drei Jahre später, auf der berühmten Tagung in Tutzing, sollte es bemerkenswerte Änderungen der Idee geben, durch Namen die Einheit unseres schwierigen Vaterlandes zu begreifen. Das hörte sich dann so an: »Bismarck und Bebel gehören dazu, Hindenburg und Ebert, Goerdeler und Leber, Adenauer und Schumacher, aber eben auch Hitler und Ulbricht.«
    Brandt erklärte in Hannover, dass er sich nicht zum bloßen Vollstrecker von Parteitagsbeschlüssen machen lassen und alle Verpflichtungen erfüllen würde, die sich für Deutschland aus der NATO-Mitgliedschaft ergäben. Vorher hatte Ollenhauer die Atombewaffnung der Bundeswehr abgelehnt. Der Kandidat schloss das gerade nicht aus. Während der gemeinsamen Vorbereitung seiner Rede hatte Brandt mir zugezwinkert: »Das haben Sie doch schon früher für möglich gehalten.« Diesen Punkt aus meiner vier Jahre zuvor in Zehlendorf gehaltenen Rede hatte er nicht vergessen. Als wir am Abend des Parteitags den Saal verließen, legte er mir eine Hand auf die Schulter: »Ich glaube, wir können Du zueinander sagen.« Das tat gut. Offiziell haben wir das »Sie« beibehalten, sogar später im Palais Schaumburg. Die Achtung vor dem Amt verbot die Vertraulichkeit des »Du« und brachte Brandt zu der Haltung, keine Partei dürfe den Eindruck erwecken, als gehöre ihr der Staat.
    Bei der Kampagne, die Klaus Schütz für den frischgekürten Kandidaten organisierte, zeigte Brandt Kraft, Vitalität und strahlendes Durchhaltevermögen. Ihre Strapazen bescherten dem Kandidaten ein gutes Gewissen; sie entschuldigten die Abwesenheit von Schreibtisch und lästigem Papierkram. An den Inhalten seiner Botschaft für die Wähler feilte er, während er sprach. »Die Mentalhygiene verbietet mir, immer die gleiche Rede zu halten«, erklärte er. Das beobachtete ich auch in den folgenden Jahrzehnten. Er baute die Abfolge seiner Argumente um, wurde kürzer und besser und war sicher, dass seine jeweils letzte Rede die beste des Wahlkampfs gewesen sei. Einer seiner Slogans, damals hochaktuell: »Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden!« Das Wort »Umwelt« war politisch noch nicht in
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