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Argwohn: Thriller (Solveigh Lang-Reihe) (German Edition)

Argwohn: Thriller (Solveigh Lang-Reihe) (German Edition)

Titel: Argwohn: Thriller (Solveigh Lang-Reihe) (German Edition)
Autoren: Jenk Saborowski
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KAPITEL 1
Iliciovca (Drochia), Moldawien
Montag, 3. Juni 2013, 7.09 Uhr
    Obwohl Lila längst verlernt hatte zu träumen, erwachte sie jeden Morgen voller Zuversicht und weckte ihre Großeltern mit dem lauten Quietschen der Fensterläden. Nicht alle Mädchen in ihrem Dorf hatten das Glück, dass beide noch lebten, um den Garten zu bestellen, zu kochen und sie zur Schule zu schicken. Eltern gab es in Iliciovca keine mehr.
    Lila wartete auf die Bläschen im Wasser, aber ausgerechnet heute schien die Flamme kleiner als sonst. Als sie Großmutters schlurfende Schritte auf dem Weg ins Bad hörte, war der Tee fertig. Sie verschüttete beim Eingießen etwas davon und beeilte sich, den Fleck aufzuwischen. Die schweren Schuhe ihres Großvaters schoben sich unter den Tisch. Sie reichte ihm seinen Becher und eine Schale mit Mamalyga. Sein gebeugter Rücken bildete eine schöne Kurve vom Fuß seines Schemels bis zur Tasse, wie eine Funktion in der Mathematik. Er starrte auf Lilas Brief. Die brüchige Haut seiner Finger strich über den Schmetterling, den ihre Mutter auf den Umschlag gezeichnet hatte. Dann wog er ihn in der Hand. Lila spürte die Hoffnung auf Geld hinter seinen Augenlidern. Sie nahm ihm den Brief aus der Hand, und die Kurvenfunktion fiel in sich zusammen. Aber er lief ihr nicht hinterher, als sie ihr Schulbündel schnappte und die Tür hinter sich zuschlug. Lila und die anderen Kinder hatten gelernt, mit den dünnen Briefen ihrer Eltern zu leben, mit den vielen Worten und den wenigen Scheinen für Bücher, Zahnpasta und den Arzt. Normalerweise öffneten sie die Briefe am Küchentisch und berieten, was am nötigsten gebraucht wurde. Aber nicht heute. Heute nicht. Heute war Lilas fünfzehnter Geburtstag.
    »Wir kaufen dir ein Kleid«, sagte Ioana, als sie nach der Schule zum Busbahnhof liefen. »Fürs Mittsommerfest.«
    Lila beobachtete die Kieselsteine vor ihren Schuhspitzen. Sie glaubte an die Logik und die Mathematik. All ihre Berechnungen sprachen sich dagegen aus, bei der Wahl zur Mittsommerkönigin anzutreten, denn das Ergebnis war jedes Mal, dass eine andere gewinnen würde. Lila war dünn wie die Beine eines Ziegenbocks, und sie hatte eine große Lücke zwischen den Schneidezähnen. Ioana hingegen trugen die Jungs wie auf Kissen gebettet in einer Sänfte durch die Schulflure. Die Summe aller Berechnungen sah jedoch Lila im Plus, denn sie glaubte, dass es für ein Mädchen aus Moldawien ungesund ist, sich nicht anstrengen zu müssen. Das Leben würde noch hart genug werden, wenn sie erst mit der Schule fertig waren. Eine Zukunft gab es für sie nämlich nicht. Die Schulen waren ein Relikt aus den guten Zeiten, als ihre Republik der Garten aller Sowjetstaaten gewesen war und die Exporte von Wein, Tabak und Gemüse ihren Wohlstand gesichert hatten. Als eigenständiger Staat hatte Moldawien seinen Kindern nichts zu bieten.
    »Wie viel haben sie dir geschickt?«, fragte Ioana.
    Lila zog den Umschlag mit dem Schmetterling zwischen den Schulbüchern hervor. Zwischen zwei Zeitungsseiten steckte der gefaltete Schein. Die orangefarbene Banknote knisterte beim Öffnen, und Stück für Stück kam das Bild einer mittelalterlichen Festung zum Vorschein. Einhundert Lei.
    Ioana pfiff leise durch die Zähne, Lila hätte das besser gekonnt.
    »Für hundert Lei kannst du die halbe Siedlung kaufen. Lass uns wenigstens schauen, was sie haben.«
    Lila nickte. Die Siedlung vielleicht nicht, aber eine ganze, riesengroße Salami vermutlich schon. Oder ein Kleid. Vielleicht sogar eines mit einem Aufdruck. Etwas Modernes. Eines, in dem sie nicht mehr aussah wie das Bein eines Ziegenbocks, wie Bence sie genannt hatte. Sein Kommentar saß tiefer, als sie gedacht hatte. Ioana hatte recht: Was günstige Textilien anging, war der Markt vor der Stadt nicht zu schlagen. Die Großeltern sahen es nicht gerne, wenn Lila dorthin ging, weil die Frauen angeblich Hexen waren und einige mit dem Teufel paktierten, was Lila für nicht sehr wahrscheinlich hielt. Außerdem mussten sie es ja nicht erfahren. Ebenso wenig, dass es ursprünglich einhundert Lei gewesen waren. Ioana hatte sie angesteckt. Zumindest ein wenig.

    Lila und Ioana umkurvten die unberechenbaren Pfützen und liefen an den Häusern mit den Töpfen und den Stühlen vorbei bis zum Platz zwischen den Hütten, die wie eine kleine Wagenburg zusammenstanden. In der Mitte hingen ihre Waren, hauptsächlich Kleidung unter großen Schirmen. Vor den Häusern saßen breitbeinig alte Frauen in
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